Die ultimative Verschwörungstheorie
20/05/2020Literarische Gattungen & Genreüberblick
19/06/2020Sein Blick glitt ins Leere. Die Scheune war langgezogen, groß, mit massig Platz für Tier und Gerät. Dieses Jahr sogar mit unüblich viel Platz. Der letzte Winter hatte ihnen einige Verluste beschert. Nichts, was sie an sich nicht ausgleichen konnten. Mit etwas Geduld und Fingerspitzengefühl würden sie ihre Milchkuhanzahl in den nächsten zwei Jahren sogar fast verdoppelt haben; mehr als genug um zur Not ein Tier schlachten zu Können.
Aber die Verluste bedeuteten noch etwas anderes, als mögliche Nahrungsknappheit. Sie bedeuteten, dass die Strider sich näher an die Farm heranwagten.
Sicher. Man konnte auch argumentieren, dass es Sörens schuld gewesen ist. Der Auftrag war eindeutig gewesen: Repariere den Zaun zur hinteren Weide, denn wir wollen sie vorne halten. Ob Sören geschlampt hatte, oder es nur einer jener bösartigen Zufälle des Universums war, das wusste er nicht. “Karma” war so ein Schlagwort, dass man am Anfang häufig hörte. Nicht dass er viel mit Sanskrit oder alt-indischen Schriften zu tun hatte, aber ein Satz war ihm dann doch immer im Gedächtnis geblieben:
„Du säst eine Tat und erntest eine Gewohnheit. Du säst eine Gewohnheit und erntest einen Charakter. Du säst einen Charakter und erntest ein Schicksal.“
Dieser Satz stammte von Swami Sivananda, das wusste er. Aber er wusste nicht, wer Swami Sivananda überhaupt war. Noch nie, in seinem ganzen Leben, hatte er jemals einen Yoga-Meister getroffen. Hätte ihn jemand gefragt, ob er sich überhaupt dafür interessierte; er hätte lachend verneint und gefragt ob man ihn auf den Arm nehmen wollte.
Aber dieser Satz, darüber wie eines zum anderen führte, war ihm immer wieder im Kopf herum gespukt. Besonders häufig, seit Sören sich hier das Leben genommen hatte, der Feigling. Vielleicht hatte die Leichtlebigkeit seines Cousins, genau wie all seine Schludrigkeit, irgendwann mit einer kleinen Tat begonnen, die dann zur Gewohnheit wurde. Und vielleicht, weil er sich dieser Gewohnheit des “Beschreiten des Wegs des geringsten Widerstandes” zur Lebensweisheit auserkoren hatte, statt dagegen anzukämpfen, formte sich sein Charakter, wie er nun einmal zum Ende hin war. Unüberlegt, unreif, verantwortungslos, kindisch und unfähig, seine eigenen Taten hinlänglich zu reflektieren, was ihm geholfen hätte, dort wieder heraus zu kommen und dazu zu lernen.
Oder vielleicht war Nils selbst nur zu schnell gealtert. Zu ernst geworden, zu sehr auf der Hut, immer mit einem neuen Angriff rechnend. Vielleicht hatte sein Cousin nur eine dumme, kleine Unachtsamkeit begangen, die so gesehen jedem passieren konnte. Selbst ihm, der er alles doppelt und dreifach prüfte, und am liebsten jeden noch so kleinen Aspekt des täglichen Daseins kontrollieren würde, inklusive seiner Mitüberlebenden.
Nils wusste es nicht so genau. Aber was er wusste war, dass sein Cousin und er zwei völlig unterschiedliche Richtungen eingeschlagen hatten, nachdem sie die Strider das erste Mal sahen. Es war, als hätte Sören beschlossen nach links abzubiegen und er selbst, dass er nach rechts umschwenken musste. Doch irgendwie waren sie vielleicht beide auf der Flucht gewesen, vor dem, was sie seitdem in ihren Träumen jagte.
Vielleicht, so dachte Nils, vielleicht hatte Sören sich bis zuletzt nicht geändert, und alle irrten sich, dass er den Freitod wählte, weil ihn das schlechte Gewissen so plagte, da sein Fehler Vieh kostete und fast drei Menschenleben forderte.
Vielleicht hatte Sören ja nur verstanden, was der Yoga-Meister sagen wollte, und der Zug für ihn abgefahren war?
Nils lächelte schwach. Nein, das klang nicht nach seinem Cousin, das wäre zu überlegt, und der Blick zu stark geschärft,die Zusammenhänge des Lebens zu ergründen. Sören war nicht so.
Vielleicht hatte Sören auch nur begriffen, dass nur ein Fehler die Strider direkt hier ans Haus lotsen könnte, und er ihnen dann wieder ins Gesicht blicken musste?
Nils lächelte wieder schwach, mit dem Blick auf dem Gewehr auf seinem Schoß verharrend. Ja, das klang schon eher nach diesem Feigling.