Reiseroman
01/09/2020DFiN – Georges‘ Heute
10/09/2020
Ihre morgendliche Hatz war erfolgreicher gewesen, als sie selbst angenommen hatte. Nicht dass sie pessimistisch an die Jagden heran ging. Nein, das würde ihr zu viele Misserfolge einbringen. Aber die Ratten und Mäuse waren schlauer geworden mit den Jahren, die sie nun schon hier zubrachte und ihnen nachstellte. Zumindest empfand sie es so.
Ihr Blick bohrte sich noch einmal durch die dämmrige Beleuchtung der Scheune, die im Moment als zusätzlicher Stall benutzt wurde. Es war ein Jahr mit vielen Jungtieren gewesen und weniger Verluste, als sie erwarteten. Vermutlich einem neuen Weidenplan geschuldet, der die Tiere insgesamt in den Morgen- und Abendstunden näher am Haus hielt, auch wenn sie dafür öfters wechseln mussten.
Sicher, die Frage nach dem Vieh kümmerte sie nicht besonders groß. Mal abgesehen davon, dass hier und da etwas für sie abfiel. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, wüsste sie sich zu helfen. Daran führte am Ende auch kein Weg vorbei, denn wenn es um die Verteilung der Nahrung und anderer Dinge ging stand sie sehr weit unten in der Hierarchie der Farm. Darüber zu klagen kam ihr allerdings nicht in den Sinn, denn sie bot trotzdem Schutz und Zuflucht und meistens einen gefüllten Magen.
Als die Strider die Welt überfluteten hatten es nur wenige geschafft. Mit der Zahl derer, die in die Dunkelheit geschleift wurden und nie wiederkamen, schwand auch die Zahl der Lichter, die noch Sicherheit hätten bieten können. Licht war normalerweise auch nicht ihr größter Freund. Zumindest nicht, bevor die Lange Nacht über sie alle hereinbrach, und die meisten ausmerzte die sie gekannt hatte.
Sie dachte normalerweise nicht an jene Nacht zurück, in der einfach die Tür eines Trucks neben ihr aufgerissen wurde, und sich zwei kräftige Männerhände um sie schlossen. Nicht an die lange Fahrt, die sie im hell erleuchteten Wagen zubrachte, bis aufs Äußerste angespannt. Nicht an ihre ersten Schritte auf diesem Gelände, und das alte Paar, dass sie grüßte, aber längst nicht mehr unter ihnen weilte. Eigentlich dachte sie niemals bewusst an all dies zurück… und dennoch zuckte sie manchmal im Schlaf unwillkürlich, oder schreckte hoch, völlig zerzaust vom unruhigen Umherwälzen ihres Leibes.
Im Grunde lebte sie von Moment zu Moment, so wie sie es schon vor der Langen Nacht getan hatte. Das einzige was sich wirklich für sie änderte war, dass das Licht zum Freund wurde. Denn wo Licht war, war kein Strider, und wo Dunkelheit war, lauerte nichts anderes als der Tod.
Sie streckte sich geschmeidig, die Anstrengungen der letzten Minuten damit abschüttelnd, und kletterte eine schräg angelehnte Leiter hinauf, um den Heuboden zu erreichen. Sie mochte diesen Platz. Er war meist ein paar Grad wärmer als die restliche Umgebung und ab und an putzte sogar jemand das große runde Scheunenfenster, das einen einmaligen Blick über das Areal bot. Nicht dass sie sich normalerweise an ungeputzten Fenstern störte. Es war ihr einerlei, wie so vieles. Aber wenn dieses Fenster nicht geputzt war, konnte sie schlecht von ihrem warmen behaglichen Platz aus beobachten, was sich außen tat, ohne gleich als „faul“ verschrien zu werden.
Doch die behagliche Ruhe, in der sie sich niedergelassen hatte, schwand zugunsten einer aufkeimenden Erregung, als sie ihren Blick durch die runde Glasscheibe lenkte und den Kopf spontan schief legte.
Was war das nur für ein Schatten, da draußen, zwischen den Bäumen, jenseits der Weide?