Heldenreise
17/09/2020
DFiN – 4
15/11/2020„Schnell wird gar nichts, aber schnell hat es einen.“ Eine Weisheit, die Mikael von seinem Großvater mit auf den Weg gegeben wurde, als er noch wesentlich jünger war. Lange bevor er seinen gutbezahlten Job bei der Bahn verlor und dazu überging, Gelegenheitsstellen anzunehmen, um sich irgendwie über Wasser zu halten. In seinem Alter noch etwas zu finden war alles andere als leicht, wie er damals feststellen musste. Aber er fand immer etwas. Zumindest bis irgendwann auch die Aushilfsjobs ausgingen – denn jünger wurde der grauhaarige Mann nicht gerade mit jedem weiteren Jahr, das verstrich. Auch dies hatte Mikael, zu seinem Leidwesen, irgendwann feststellen müssen. Er war alt, und auch wenn groß von “Erfahrung” und “Kompetenz” geredet wurde, die für ältere Arbeitnehmer sprachen, so war dies doch eher Wunschdenken und weit von der Realität entfernt, zumindest wenn man ein einfacher Arbeiter war, wie er.
»Faulenzen,« ließ er die Jungs seiner Nachbarin trotzdem gerne regelmäßig wissen, »kommt für mich trotzdem nicht in Frage. Denn im Leben muss man sich durchbeißen!«
Sicher, seine Haut zeigte mittlerweile die ersten Altersflecken und war stellenweise schon gut runzelig geworden. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, seine Chance zu wittern, als die Schrottpreise in die Höhe schnellten. Er hatte noch genügend Asche auf der hohen Kante, um sich einen kleinen Kipp-Transporter gebraucht zu kaufen und einen Kran montieren zu lassen. Eine kluge Investition, dieser Kran, ersparte es ihm doch einen zweiten Mann. Und obendrein lief es anfangs wirklich gut. Er konnte nicht reich damit werden, aber es langte um wieder über die Runden zu kommen und keinem auf der Tasche zu liegen. Etwas, was Mikael wichtig war. Selbst ist der Mann.
Jedenfalls ergab es genug Einkommen, als noch nicht so viele Menschen auf dieselbe Idee gekommen waren wie er selbst. Heute war natürlich alles anders. Oft kam ihm schon ein anderer Schrottsammler entgegen, wenn er in eines der Dörfer einbog. Ja, es war sogar so weit, dass manchmal ganze Wagenladungen des Mischmetalls von einem Kleinlaster auf den anderen wanderten, nur damit sich früherer Besitzer und früherer Besitz auf dem lokalen Schrottplatz erneut über den Weg liefen. Natürlich meist unter großem Geschrei, der einen oder anderen Backpfeife und dem erbosten Einschalten der Polizei, denn Diebstahl war Diebstahl. So sah er es jedenfalls, aber er war auch eine ehrliche Haut gewesen, sein ganzes Leben lang.
Mikael war dies alles zu viel geworden. Vielleicht gerade deshalb.
»Der Markt ist überladen, da kann man nichts machen,« lautete seine lapidare Schlussfolgerung, »also brauch‘ ich was Neues.«
Etwas Neues. Wie oft im Leben hatte er das gesagt? Und sollte die Schrottsammelei nicht sein Einkommen bis zur Rente sichern? Es waren nur noch viereinhalb Jahre, die er durchzuhalten hatte. Viereinhalb schwere Jahre, denn er merkte das Alter schon enorm. Vielleicht zu schwer, um Tag ein Tag aus herum zu fahren, mit seiner kleinen Glocke zu Läuten, die er zufällig zwischen alten gusseisernen Zaunteilen gefunden hatte und als zu schön befand, um sie der Schrottpresse zu überantworten. Er mochte das helle Bimmeln und ihre Verzierungen, die ihn an Lilien erinnerten, vom ersten Moment an.
Es war ein guter Tag, als er die kleine Glocke mit eingepackt und an seinen Truck gehängt hatte. Einer der letzten guten Tage als Schrottsammler, fragte man ihn, auch wenn die Leute diese Aussage oft als etwas makaber empfanden.
Die „Lösung“ seines Problems war dennoch naheliegend, zumindest für ihn: Statt „Schrott“ sammelte er nun auch Antiquariat und anderes. Die Flohmärkte machten ihm Spaß. Auch damit konnte er kein Vermögen verdienen, aber sie waren eine willkommene Abwechslung zu all dem „Nachtelefonieren“ um heraus zu finden, wo es noch irgendwo etwas an Altmetall abzuholen gab und reichlich erfrischend nach den endlosen verfahrenen Stunden in seinem Kleinlaster, auf der Suche nach Dingen, die Leute auf den Gehsteig rausgestellt hatten und los werden wollten. Wenn er einen Schrottfund machte, brachte Mikael ihn nach wie vor auf den Schrottplatz. Wenn es sich aber um „gute Sachen“ handelte, brachte er sie lieber in die großräumige, alte Garage die er als Kleinversion einer „richtigen“ Lagerhalle benutzte. Eigentlich war es eine Doppelgarage, aber die alte Frau die in dem großen angrenzenden Haus wohnte benutzte weder die eine noch die andere Seite und war froh, dass er ihr ab und an mal einen Einkauf erledigte oder zur Hand ging, gleichwohl er nur für eine Seite eine kleine Mietgebühr zahlte.
»Eine Hand wäscht eben die andere, und ich bleibe niemandem etwas schuldig.«
Mit diesen einfachen Worten und einem Handschlag hatte er die „Pacht“ besiegelt.
Auch heute hatte er wieder einen kleinen Abstecher zum Supermarkt gemacht, für die alte Dame, da ihr das Backmehl ausgegangen war. Sein kleiner Kipptransporter war zwar nur zu einem Drittel beladen, und dies exklusive des Einkaufs den er lieber in seiner Fahrerkabine aufbewahrte, aber Mikael hatte diesen sechsten Sinn für die „guten“ und die „schlechten“ Tage, der ihn selten im Stich ließ. Heute würde kein guter Tag mehr daraus werden, also lohnte es sich nicht, sinnlos Sprit zu verfahren. Lediglich ein Haus wollte er noch ansteuern, bevor er in seine „Halle“, wie er seine Doppelgarage liebevoll nannte, zurückkehrte. Es war ein altes Haus, definitiv sogar noch um einiges älter als er selbst.
Die Flüsterpost der Nachbarschaft hatte gute Arbeit geleistet; schnell hatte sich die Kunde verbreitet, dass das junge Paar, welches nach dem Tod der ursprünglichen Besitzer das Haus vom Fleck weg so übernommen hatte wie es war, war bereits nach wenigen Wochen wieder in die Stadt zurück flüchtete. Mikael zog es vor, sich in diese Angelegenheiten nicht einzumischen, aber gewundert hatte es ihn wenig. Was wollten die Jungen auch in dem „besseren Dorf“, das nach dem Schließen des letzten Tante-Emma-Ladens und dem drohenden Aus der ortsansässigen Apotheke hier mehr und mehr ausdünnte? Wenn das „Dorfsterben“ einmal anfing, so hörte es so schnell nicht mehr auf. Die billigen Preise für Wohneigentum und Miete lockten zwar, aber auf Dauer war hier einfach zu wenig geboten. Und das sagte er selbst, obwohl er schon einige Generationen mehr erlebt und sein Leben lang hier gewohnt hatte.
»Die waren aber eh nicht ganz sauber,« hatte ihm seine Nachbarin zu getuschelt hinter vorgehaltener Hand, »und die Frau sah so kränklich aus als sie das Haus verließen. Fluchtartig, haben mir die Kinder der alten Ernie gesagt. Die Ärmsten! Da lassen sie das Paar schon früher ins Haus um sich einzurichten und dann treten die einfach mir nichts dir nichts vom Mietvertrag zurück. Und jetzt? Jetzt stehen Ernies Kinder mit all der Last da und müssen das Haus doch entrümpeln und renovieren. Dabei hatten sie sich so gefreut, es endlich los zu bekommen, müssen doch soweit herfahren!«
»Hm, hm. Das‘ schon ein Pech.« lautete Mikaels wortkarge Antwort.
Er mochte seine Nachbarin, nur konnte er mit dem Tratsch nicht besonders viel anfangen oder gar etwas zu diesem beisteuern. Hier und da hatte er vielleicht einmal erzählen können, dass es aussah, als ob jemand ein- oder auszöge, oder bekam mit, dass wieder „einer der alten Herrschaften die Biege macht“, wie man bei ihnen zu sagen pflegte, wenn die veraltete Dorfgemeinschaft um ein leerstehendes Haus bereichert wurde, da die Bewohner sich lieber im Altenheim versorgen ließen. Oder schlicht gezwungen waren, dessen Fürsorge anzunehmen, weil es hier auf dem Land immer schwieriger wurde adäquate Versorgung zu finden und die eigenen Kinder meistens schon Jahre zuvor weitergezogen waren. Letzteres wiederum wunderte Mikael wenig. Ohne gute Jobs zieht es die jungen Leute eben in die großen Städte, wo sie mehr Möglichkeiten haben.
Verübeln konnte es ihnen Mikael nicht. Genauso wenig wie er das Gehupe übelnahm, das ihn begleitete, als er in stoischer Gelassenheit seinen Kleinlaster zurücksetzte und dann langsam in die breite Auffahrt des Hauses einfuhr, das sein Ziel war. Zeit war heute Geld – und kaum einer hatte noch die Geduld, einfach mal zwei Minuten zu warten. »Schnell wird gar nichts, aber schnell hat’s einen.« Ob sein Großvater wusste, wie recht er behalten würde?
Die Vordertür stand sperrangelweit offen und grüßte ihn. Eine seltsame Erinnerung an die alte Ernie, die sie auch gerne weit geöffnet hielt. Vielleicht muffte es im Haus aber auch nur und war gar keine wohlgemeinte Einladung, doch auf einen Kaffee vorbei zu schauen.
An die junge Ernie hatte Mikael keine wirkliche Erinnerung, gleichwohl er hier aufgewachsen war. Er kannte sie nur als ältere Lady. Alleinstehend, ein paar Katzen und eine Seele von Frau. Dennoch war es klüger zu Klopfen. Wer weiß ob ihre Kinder so gastfreundlich waren, und nicht lediglich nur durchlüften wollten?
Doch zu Mikaels (kurzer) Verwunderung erschien ein haselnussbrauner, kurzer Schopf nach dem Klopfen, der zu einer wesentlich jüngeren Person gehörte. Wenn er Pech hatte, war schon ein Entrümpelungsunternehmen beauftragt worden, sich um das Haus zu kümmern. Dann würde es auch nichts abzugreifen geben, außer er zahlte horrende Preise und ging das Risiko ein, Verlust einzufahren, konnte er nicht genügend auf dem Flohmarkt dafür einnehmen.
Es war wohl Glück im Unglück – oder am Ende Unglück im Glück? – dass sich das Jungvolk als Enkel Ernies entpuppten, statt Angehörige eines Konkurrenten. Aber viel zu holen gab es dennoch nicht. Die „guten“ Möbel waren zum Großteil einem Sozialkaufhaus versprochen worden, und zurück blieb nur, was dieses als „nicht verkaufbar“ einstufte. Zeug, dass auch er nur schwer los wurde. Nicht, dass Mikael etwas gegen das Prinzip der Sozialkaufhäuser hatte. Im Gegenteil, er fand die Idee wirklich gut. Nur den Trödlern und anderen Leuten, die davon lebten was Leute nicht mehr brauchten und billig oder gar umsonst abgaben, bekam es im Geschäftssinn nicht sonderlich gut. Aber einmal mehr durfte sich der Kranaufbau seines kleinen Transporters bewähren: Es war noch eine Menge Metallschrott liegen geblieben. Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine, Tiefkühltruhe, ein paar museumsreife Heizkörper und sogar ein alter Heizkessel mit ordentlich Gewicht wanderten in seinen Besitz über, unter schweißtreibender Anstrengung. Und ein kleines hölzernes Kästchen, dass einsam und verloren zwischen dem Metallschrott lag, den er später am Schrottplatz zu ein wenig Geld machen würde.
Er hatte erst gezaudert, es mit zu nehmen. Die Spinnweben und Verfärbungen ließen darauf schließen, dass es schon ewig im Keller gelegen haben musste, bis Ernies Ableben es wieder zu Tage förderte. Es erinnerte Mikael etwas an alte Schmuckschatullen, wie man sie dann und wann auf den Flohmärkten fand. Aber Ernies Enkel wollten es los werden und keinen Cent dafür sehen, also warum nicht mitnehmen? Vielleicht konnte er mit etwas Reinigung und Aufpolieren noch eine hübsche kleine Summe dafür bekommen. Oder der Neugierde einfach nachgeben, und das unterste Fach aufbrechen. Auch wenn die Schlösser der drei Etagen sich zum Verwechseln ähnlich sahen, schien das Schloss der untersten Schublade wohl einmal ausgetauscht worden zu sein oder der Mechanismus hinüber. Jedenfalls hatte sie keiner bisher aufbekommen.
Die Eichen der langen Baumallee zogen an ihm vorüber und er ertappte sich dabei, immer mal wieder zu dem guten Stück zu linsen, dass er auf der Beifahrerbank abgelegt hatte. Aufbrechen oder nur aufbereiten? Aufbrechen, oder wirklich nur aufbereiten? Er war so unentschlossen. Aber je länger er den kleinen mit Schnitzereien verzierten Holzkasten betrachtete, umso besser gefiel er ihm. Aufbrechen, aufbereiten, und verkaufen oder behalten?
Liese hätte mit ihm geschimpft, an dieser Stelle, weil er dazu neigte Dinge anzuschleppen. Jetzt konnte er zwar so viel mit nach Hause nehmen wie er wollte, aber gerade dies war einmal mehr eine schmerzliche Erkenntnis. Er vermisste die Frau, mit denen er die schönsten Jahre seines Lebens verbracht hatte, an fast jedem Tag. Auch wenn es bald zehn Jahre wurden seit dem der Krebs sich durch ihren Kopf und ihre Lungen fraß und Liese völlig unerwartet aus dem Leben riss. In gewisser Weise sogar sie beide, denn auch wenn ihn der Krebs nicht dahinraffte, so nahm er ihm das, was sein Leben lebenswert machte. Mehr als das: Der Krebs degradierte ihn zum Nebendarsteller seiner eigenen Tragödie. Denn in der Tragödie stirbt der Held, doch Mikael lebte noch. Dafür moderte seine Frau nun unter Tage, in einem Holzverschlag, zerfressen von Würmern und Insekten. Er hasste diese Vorstellung. Das Einzige was er überhaupt an ihrem Grab mochte war der Grabstein. Er hatte keine Kosten gescheut, und den Schönsten ausgesucht, den er finden konnte. Schön in ihrem Sinne, denn er war nicht sonderlich gläubig und einfach gestrickt. Aber ihr hätte dieser Grabstein gefallen, mit dem Seraphim-Engel, der ein großes Herz umarmte, in einer Hand dabei eine fast zu Boden gleitende Rose noch gerade so haltend, während sich sein Engelsgewand lose um und in Falten fallend um ihn schlang. Oder sie, wenn man es genauer nahm, denn die langen Haare und wunderschönen, doch traurigen Gesichtszüge des Engels waren einer Frau nachempfunden. „Schülte“, stand da in großen verschlungenen Lettern auf dem Herz, und darunter: „Lieselotte Maria“ mit ihren Daten. Aber fein in einer Spalte geschrieben, damit rechts davon genügend Platz blieb für seinen Namen, und in der Mitte zwischen beiden Namen genügend Platz für die Gravur der Eheringe. Es war schon alles abgemacht, mit dem Friedhof, mit dem Steinmetz. Sogar bezahlt hatte er schon, damit alles reibungslos ablief. Er würde bei seiner Liese liegen, und sie wieder bei ihm. Ein tröstlicher Gedanke, solange er nicht an die Würmer und Asseln dachte, die über seinen von Leichengasen aufgedunsenen Leib krabbeln würden, bis sie ein Loch fanden, in das sie schlüpfen könnten.
Mikael verriss das Lenkrad fast, als er von dem kleinen Holzkasten wieder aufblickte und für einen Moment meinte eine Gestalt auf der Straße zu sehen, nur um sie im Bruchteil einer Sekunde – mit einem Wimpernschlag – wieder aus den Augen zu verlieren. Schwerer atmend umklammerte er das Lenkrad fest und blickte fast ein wenig ängstlich in den Rückspiegel, obwohl er eigentlich bereits wusste, dass es nur ein Trugbild gewesen sein konnte. Es hätte ordentlich gepoltert, hätte er etwas – oder jemanden – überfahren. Nicht, dass ihm das schon einmal passiert wäre. Nun, abgesehen von einem toten Dachs, der einmal auf einer Landstraße gelegen hatte. Keine Chance, auszuweichen oder gar abzubremsen, ohne die hinter ihm zu dicht auffahrenden Fahrzeuge zu gefährden. Gerade eben hatte es aber nicht gerumpelt und geholpert, beruhigte er sich selbst und sein kleiner Kipplaster „schnurrte“, wie er zu sagen pflegte, weiter munter seines Weges dahin. Der alte Herr blinzelte noch einmal und wischte den Vorfall gedanklich beiseite. Diese Straße hatte schon einige Unfälle gesehen. Alleen wie diese konnten Trugbilder hervorrufen, veränderten sie doch das räumliche Wahrnehmungsvermögen. Und dass die Gestalt ein langes, weißes Kleid trug, das in Falten fiel und lange Haare hatte wie der Engel der den Grabstein seiner Geliebten hielt, nun, das war wohl kein Wunder, nachdem er, wie so oft, an das Grab seiner Frau denken musste. Sie war schließlich sein Engel gewesen.
Er widerstand dem Drang, auf der restlichen Heimfahrt noch einen Blick zur Beifahrerbank zu werfen. Es war zu spät, den Schrottplatz aufzusuchen. Der Truck würde über Nacht auf seinem Hof schon sicher sein, zumindest seit er, den Schrottdieben sei Dank, die ihn schon zwei Mal besuchten, überall gut sichtbare Kameras angebracht hatte, die ungebetene Besucher von ihren Stippvisiten abhielten. Abzuladen und aufzuladen lohnte sich nicht wirklich für ihn. Dann lieber Morgen in aller Frühe aufbrechen, um das Mischmetall los zu werden.
Nur eines nahm er vom Truck mit: den kleinen Holzkasten.
Es hatte etwas vertrautes, wie er in seinen Händen lag und fast heimeliges, ihn über die Türschwelle zu tragen. Ja, überlegte Mikael es sich kurz, so fühlte es sich an, als wäre dieser schon ewig in seinem Besitz, und nicht nur ein Zufallsfund am heutigen Tag gewesen. Irgendwie warm und schwer. Sogar viel schwerer, als er vermutet hätte. Aber gleichsam auch eine Last, die er gerne trug. Als hielte er einen verborgenen Schatz in den Händen, oder ein uraltes Familienerbstück, für dass sich die Plackerei und Vorsicht eben lohnte. Ein wenig musste der alte Herr ja schon über sich selbst schmunzeln. Da ging schon so viel Schrott, Tand und Trödel durch seine Hände, aber niemals hatte er so eine närrische Zuneigung empfunden, die fast schon peinlicher Natur war. Ach, was hieß hier fast schon? Er hatte schon einiges „Hübsches“ aufgesammelt, aber nie das Gefühl gehabt, dieser Fund hätte nur auf ihn gewartet. Aber dieses Kästchen, ja, dieses Kästchen hatte auf ihn gewartet.
Fasziniert glitt sein Blick über die feine Maserung des Holzes, nachdem er das Kästchen mit ein paar feuchten, ein paar trockenen und ein paar in Holzpolitur getränkten Tüchern gereinigt und ihm etwas Liebe zukommen hatte lassen. Er mochte die feine Maserung des Holzes, das sich nun in seinen vielen Schattierungen und ganzer Pracht zeigte. Zwar hätte er schwören können, es wäre Eiche gewesen, doch nun, da es satt glänzte dank der Politur und so viel dunkler war, hatte er keinen Zweifel mehr daran, dass es sich um Birnbaumholz handelte. Wahrscheinlich hatte er sich nur getäuscht und nicht gut genug hingesehen, als er das Kästchen einpackte und später hereintrug.
Aber nun stand es auf seinem etwas in die Jahre gekommenen Küchentisch, das kleine Prachtstück, und lachte ihn an. Mikael lächelte unwillkürlich, nach einer langen Zeit des „es geht so“ endlich einmal wieder echte Freude empfindend. Jedenfalls bis sein Blick die altertümliche Küchenuhr streifte. »Verdammte Axt!« entfuhr ihm leise. Es war schon weit nach Mitternacht. Wo war nur die Zeit hin? Als er sich an die Arbeit gesetzt hatte war es gerade mal kurz nach Neun.
Kopfschüttelnd erhob sich der alte Herr und streckte ohne Nachzudenken schon die Finger nach dem Kästchen aus, um es mit hoch zu nehmen. Aber das noch leicht matte, nasse Glänzen gemahnte ihn, das Kästchen erstmal in Ruhe trocknen zu lassen, bevor er noch hässliche Verfärbungen oder Fingertatscher verursachte, die man so schnell nicht mehr rauskriegen würde.
Wo hatte er nur seinen Kopf heute gelassen?
Die Hände hinter eben jenem, der dieser Frage zum Trotz sehr wohl noch auf seinen Schultern saß, lenkte er seine kernblauen Augen an die Decke seines rustikal eingerichteten Schlafzimmers, nachdem er sich ins Bett hatte fallen lassen. Zu viel mehr als dem Abstreifen seiner Arbeitsstiefel hatte es nicht mehr gelangt, denn er fühlte sich müde. Sehr müde sogar.
Dennoch fand er keine Ruhe. Ob er sich auf links wälzte, oder auf rechts – zurück auf den Rücken, oder kurz aufsetzte: Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an. Beklemmend und ja, vielleicht sogar bedrohlich. Aber das Tor hatte Mikael schon kontrolliert. Glücklicherweise musste er dafür nur aus dem ausladenden Fenster sehen. Es befand sich niemand außer ihm hier. Nicht einmal eine der Nachbarskatzen hatte einen Bewegungsmelder alarmiert, auch wenn sie dies zuweilen ganz gerne taten und damit die Scheinwerfer im Hof aktivierten. Aber heute lag er still, dunkel und verlassen da.
Der alte Herr setzte sich verdrossen auf, als der schwere Glockenschlag des Kirchturms die dritte Morgenstunde verkündete. Er zählte die gedämpften Schläge mit. Hier auf dem Land störten die Stundenschläge keinen wirklich. Man hatte sich von klein auf daran gewöhnt. Außerdem lag die Kirche ein gutes Stück von ihm entfernt. Da pfiff der Wind in den stürmischen Frühlings- und Herbstmonaten schon manchmal stimmgewaltiger durchs Gebälk. Und seit Liese starb hatten das Glockengeläut sogar etwas Tröstendes an sich.
Müde rieb er das Gesicht in beiden Händen.
»Was für ein Tag…« sprach Mikael leise zu sich selbst und erhob sich dann beschwert wieder aus dem Bett. Sein Blick glitt kurz über die ausgestopften Tiere, als er sein Schlafzimmer verlassen hatte, die sich auf kleinen Simsen die enge Haustreppe hinaufzogen, bis in den Flur des oberen Stockwerks. Liese hatte die possierlichen Tierchen, im Gegensatz zu ihm, nie gemocht. Der Fuchs, der sich auf einem langen knorrigen Stück Holz neugierig entlang hangelte. Das Eichhörnchen, das sogar eine Nussreplikat in den Händen hielt, und fast erschrocken in die Welt starrte. Der Feldhase, der auf seinen Hinterbeinen stand, als hätte er einen gerade eben erspäht. Und dann das Tierchen, dass sie am wenigsten leiden konnte: Ein Marder, der mit gebleckten Zähnen hinab starrte, als wolle er jeden der unter ihm vorbeiging, gleich anspringen. Ein fabelhaftes Präparat, lebensecht und mit durchdringendem Blick schwarzer Glasaugen, die noch so lebendig wirkten, als könnte er jeden Moment zum Leben erwachen.
Mikael mochte den Marder ganz besonders. Normalerweise. Heute jedoch erfüllten ihn die lebhaften Augen mit einem seltsamen Gefühl. Als würde ihn der Marder anklagen, und die Zähne blecken, um zu sagen: »Was hast du getan?«
Aber was hatte er denn getan? Das Tor war zu, die Bewegungsmelder rührten sich nicht. Hatte er vielleicht vergessen die Haustüre abzusperren? Der alte Herr wand sich schaudernd von dem weißbeigen Marder ab, der ihm vorwurfsvoll nachstarrte, und ging die Treppe langsam hinunter. Das Knarzen der alten Holzstufen hatte etwas vertrautes. Aber heute kam es ihm ungemein laut vor. Fast als würde es durch leeren Raum hallen, und von diesem verstärkt werden. »Ach, nur die Stille der Nacht,« beruhigte sich Mikael selbst, »da spielt einem die Wahrnehmung schon einmal einen Streich.«
Dennoch hielt er kurz auf der Treppe inne. Ein dumpfes leises Geräusch irritierte ihn, das nicht von der Treppe stammte. Vielmehr schien es aus der Küche zu kommen. Als würden nackte Füße über den kalten Steinboden platschen. Oder war es nur der veraltete Abfluss, der ihm einen Streich spielte und wieder einmal leise gluckerte?
Mikael griff nach dem Treppengeländer und bewegte sich langsam weiter abwärts, sorgfältig einen Fuß vor den anderen setzend, um möglichst leise hinunter zu kommen. Ein mulmiges Gefühl hatte ihn beschlichen und bohrte sich nagend in sein Bewusstsein. Ein kurzer Blick in die Küche genügte – dort stand niemand. Dennoch schlich er sich sicherheitshalber zur Haustüre und rüttelte kurz prüfend an dieser. Sie war verschlossen. Es konnte niemand hier sein.
Erleichtert durchatmend, gleichwohl er das irritierende Gefühl, nicht alleine zu sein, nicht völlig abschütteln konnte, wand er sich wieder der Küche zu. Dort stand, unberührt wirkend, der kleine Schatz, den er am Vortag geborgen hatte. Als hätte das Kästchen nur auf ihn gewartet. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Züge. Wie konnte man sich nur so anstellen? Als gäbe es bei ihm wirklich etwas zu holen.
Das Haus war alt und man merkte ihm die Jahre an. Auch sein Innenhof inklusive ausladendem Hoftor wirkten nicht so, als würde hier eine reiche Person wohnen. Und dem war ja in Wirklichkeit auch nicht so. Er hatte selten mehr besessen, als er für ein halbwegs gutes Leben brauchte. Niemals groß etwas gesammelt, was irgendwann an Wert gewonnen hatte. An neumodischer Technik besaß er auch nur einen Fernseher, der schon längst in die Jahre gekommen war, aber seinen Dienst noch tat, fragte man Mikael. Ja, das Haus war alt. Ab und an gluckerte es in einem Rohr und die Treppe knarzte, während der Wind durchs Dachgebälk strich. Selbst sein Bewohner war offenkundig alt geworden, wenn er diese Geräusche mittlerweile als Heimsuchung einstufte und sich verfolgt fühlte von unsichtbaren Augen.
»Was für ein Unsinn, alter Mann.«
Mikael blinzelte kurz irritiert. Hatte er das vor sich hingemurmelt? Von Zeit zu Zeit begann er manchmal mit sich selbst zu Sprechen. Ein paar Sätze, hier und da, wenn es ihm zu still war. Zumindest seit er von Liese Abschied nehmen musste.
»Setz dich erstmal und trink ein Glas Wasser.«
Er lächelte. Das hatte Liese immer gesagt, egal was war. Das Finanzamt verlangte einen ganzen Monatslohn an Nachzahlung? Hinsetzen, ein Glas Wasser trinken. Die Nachricht über den Unfall eines Freundes? Hinsetzen, ein Glas Wasser trinken. Der Nachbarsjunge hatte bei Kicken ausversehen die Fensterscheibe des Schuppens erwischt? Hinsetzen – und ein Glas Wasser trinken. Ihm war übel.
Mikael setzte sich an den alten Küchentisch, als er sich ein Glas Wasser aus der Leitung gezogen hatte. Liese hatte immer Recht behalten, mit diesem Rat.
Sein Blick glitt über das Kästchen, dass so geduldig seiner Rückkehr geharrt hatte. Was sich wohl darin verbarg?
Langsam wanderten seine Fingerspitzen über die verschlungenen Schnitzereien und dann weiter zur ersten Schublade, um diese vorsichtig aufzuziehen. – Nichts.
»Alter Tor,« murmelte Mikael seine eigene Neugierde abstrafend, »natürlich haben sie es schon ausgeräumt.«
Er nippte wieder am Wasser und tippelte eine Spur unruhig auf dem Holz herum, als er die oberste Schublade wieder vorsichtig hineingeschoben hatte. Natürlich haben sie es schon ausgeräumt. Natürlich würde er nichts darin finden. Aber was, wenn sie nicht besonders gründlich waren? Oder was, wenn sich ein Hinweis auf die ursprüngliche Nutzung des kleinen Holzkastens in ihm verbarg? Was, wenn vielleicht sogar das Jahr und der Erschaffer des kleinen Schmuckstücks vermerkt waren? Unwohl rieb er sich über den Brustkorb, der sich beklemmend eng anfühlte.
Das Tippeln hörte auf, als er die Finger zur mittleren Schublade weiterschob und die Küche damit wieder in Stille hüllte. Nur das leise Geräusch schabenden Holzes war zu hören, als er vergebens versuchte, sie vorsichtig aufzuziehen, während ihm das Herz fast schmerzhaft stark in der Brust klopfte.
Mikael hätte um ein Haar laut aufgelacht.
Wieso wusste er selbst nicht so genau. War es ein spöttisches Lachen, dass ihm in der Kehle steckte, ob seiner eigenen Narretei, dass er wider besseres Wissen doch noch hoffte etwas zu finden? Oder verlor er allmählich den Verstand? Und wenn ja: War es das Alter, oder war es die Einsamkeit, in diesem Haus? Mikael schüttelte den Kopf.
Nein, dies war wohl ein Wink des Schicksals. Es wird schon seine Gründe haben, warum ich sie nicht aufbekomme.
Sein Lächeln weitete sich. Was Liese wohl gesagt hätte? Wäre sie so neugierig gewesen wie er selbst? Eher nicht. Wahrscheinlich hätte sie das Kästchen an sich genommen, noch einmal gründlich geputzt und gesagt, dass alle Dinge im Leben ihren Platz und ihren Sinn haben, ob wir es nun verstehen oder nicht. Der Herrgott gibt’s und der Herrgott nimmt’s eben, so wie er es sich denkt. Einige Sekunden verstrichen und er holte für einen Moment schleppend und tief Luft. Es duftete nach Rosenwasser. Lieses Lieblingsduft.
Fast zärtlich fuhr er die glatte Oberfläche des Holzes entlang, versonnen auf die Schnitzereien starrend. Das, was er für die verschlungenen Astgabeln eines Waldes gehalten hatte, entpuppte sich nun bei genauerer Betrachtung viel mehr als das fruchtbewehrte Dach eines dichten Dschungels. In den Ästen tummelten sich dem Tukan ähnliche Papageienvögel mit langen gebogenen Schnäbeln und kleine Affen. Die Hirsche und Rehe, die er gemeint hatte zu sehen, schienen viel mehr kleine geweihlose Antilopen, weit im Hintergrund und fast hinter den angedeuteten Büschen verborgen. Dafür reckte ein Elefant seine mächtigen Stoßzähne und den langen Rüssel, um eine Frucht zu pflücken. Lianen striffen seinen breiten Rücken und hinter einem kräftigen Baumstamm, der etwas in den Vordergrund gerückt war, lugte eine Art Wasserbüffel hervor.
Das hätte seiner Frau mit Sicherheit gefallen. Sie wollten schon immer einmal einen Dschungel erleben. In Thailand vielleicht, oder auch Indien. Das waren ihre Pläne gewesen, auch wenn die Finanzen und Lieses Gesundheitszustand dies vereitelten. Mikael lächelte und strich weiter über die kunstfertigen Schnitzereien. Hatte er sich den kleinen Kasten überhaupt einmal so genau betrachtet? Wie hatte ihm all dies beim Auftragen der Holzpolitur nur entgehen können? Er hätte schwören können, es war eine deutsche Schnitzerei. Eichen, Hirsche, was man eben so kennt. Aber jetzt erinnerte ihn das kleine Schmuckstück viel mehr an eine der riesigen, mehr als einen Quadratmeter umfassenden Schnitzereien, die er und Liese einmal in einer Wanderausstellung zu asiatischer Handwerkskunst gesehen hatten. Weiter waren sie mit ihren Plänen, ferne Orte zu besuchen, niemals gekommen. Aber das hier, diesen kleinen Kasten mit seiner überbordenden Vielfalt an Darstellung und diesem exotischen Flair, den hätte sie geliebt.
RING.
Mikael blieb fast das Herz stehen, als das Telefon unvermittelt zu schellen begann und fast im selben Moment etwas im Flur umkippte. Das laute Klackern nicht wirklich beachtend hastete er zum Hörer und riss diesen von der Station, die neben dem Kücheneingang hing: »Hallo?«
Irritiert lauschte er in den Hörer, als es zur Antwort nur leise knackte und knirschte. Wer rief ihn um diese Uhrzeit nur an? Und wie spät war es überhaupt?
»Hallo?« versuchte er es wieder, doch die Leitung blieb still, bis auf ein leises Rauschen. »Ist da jemand?«
Kopfschüttelnd legte der alte Herr auf und den Hörer wieder in die Mulde der Station, um sich dann verwirrt umzublicken. Es war duster in der Küche geworden. Der sonst so gewohnte Anblick der alten, dunkel gebeizten Möbel hatte etwas bedrückendes in diesem Dämmerlicht und Mikael tastete mit einer Hand zur Wand hinter sich, um den Lichtschalter zu betätigen. Er hörte das vertraute leise Klack, als der Schalter endlich nachgab, doch der Raum erhellte sich nicht.
Mikael schnaufte leise durch. »Verdammte alte Leitungen,« hörte er sich selbst Murmeln, während er sich vorsichtig zur Küchenzeile weiter tastete. Die Schublade klemmte ein wenig, aber das Rasseln und Rattern der Dinge die sich darin angesammelt hatten, hatte etwas beruhigendes in dem ansonsten stillen Haus, als er energischer rüttelte bis sie endlich nachgab. Sorgfältig räumte der alte Herr alte Schrauben- und Inbusschlüssel, ein Metermaß und ein paar lose herumliegende Schrauben heraus, bis er sich zur Taschenlampe vorgekämpft hatte. Die Finger wollten an manchen Tagen nicht mehr so wie früher, der Arthrose wegen, die sich langsam in seinen Schultern und Händen festgefressen hatte. Aber so schlimm konnte es heute eigentlich nicht sein, sonst wäre er schon mit Schmerzen aufgestanden.
Er brummte unleidlich und schüttelte die Taschenlampe etwas, bis sie endlich ansprang und den Raum für einen kurzen Moment erhellte, ehe sie wieder ausging. Die Batteriestandsanzeige, die eigentlich volle fünf grüne Balken hätte zeigen sollen, blinkte bedächtig und rot vor sich hin, kaum noch einen Streifen zeigend, ehe sie ganz erlosch. Fluchend rüttelte Mikael an einer weiteren Schublade, um diese einhändig aufzubekommen, und räumte ein paar Zettel heraus, auf der Suche nach frischen Batterien.
RING!
»Verdammich!« Er griff sich beherzt an die Brust vor Schreck, als es wieder klingelte. Wenigstens schmerzte das Herz nicht mehr. Das immer mal auftretende Ziehen in der Brust der letzten Wochen hatte ihn zwar nicht allzu sehr beschwert, aber doch zuweilen abgelenkt und genervt.
Diesmal war es nicht das Telefon, sondern die Türklingel, die aufkreischte. Ihm hatte das Geräusch nie sonderlich behagt, denn es war laut und schrill, aber mit den Jahren hatte es sich als Vorteil erwiesen: Man hörte sie auch, wenn die Ohren langsam nachzulassen begannen, so wie seine.
Schwer atmend begab sich der alte Herr zur Vordertür, diese aufziehend. Es war sicher, hier draußen bei ihnen auf dem Dorf. Selbst wenn er einen Türspion besessen hätte, wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, erst hindurch zu sehen. Und selbst wenn er es getan hätte, hätte er nichts erkannt – denn es war zappenduster. Angestrengt in die Dunkelheit blickend blinzelte Mikael ein paar Mal, doch bis auf undefinierbare Schemen konnte er dort draußen nichts erkennen. Wie spät es wohl sein mochte, wenn es so dunkel war? Tief durchatmend ließ er die Tür wieder ins Schloss fallen und ging zurück in die Küche, das Küchenradio schnappend und einschaltend. Doch es blinkte nur, munter 00:00 Uhr anzeigend, egal wie viel Uhr es wirklich war. »Stromausfall?« hörte sich der alte Herr wieder selbst Murmeln, nur um ein drittes Mal zusammen zu schrecken.
RING-RING!
Er ließ das Küchenradio achtlos fallen, auch wenn er es im Anschluss nicht aufprallen hörte. Doch dafür hatte er gerade weder Zeit, noch Nerven übrig. Langsam wurde es ihm wirklich zu bunt! »WER IST DA?«
Einige Momente lang blieb es still und Mikael hoffte bereits, der Spuk hätte endlich ein Ende.
RING-RING!
»WAS WOLLT IHR?« brüllte er in den Hörer, als er diesen von der Station gerissen hatte, nur um erneut von leisem Klacken und Hintergrundrauschen empfangen zu werden. Ein Art Hämmern und Bohren mischte sich hinein, doch schien es nicht direkt aus dem Hörer zu stammen.
RING-RING!
Das Telefon ebenso achtlos fallen lassend stapfte er aus der Küche in den Flur, den Geräuschen folgend – nur um die Tür aufgebrochen vorzufinden. Zwei bedrohlich wirkende Schatten hielten auf diese zu, als würden sie aus der Dunkelheit ausgespuckt werden und nur schemenhaft beleuchtet, von einem blauen Licht, das erschien und wieder verschwand, im gleichmäßigen Rhythmus. Für einen Moment meinte der alte Herr aufgeregtes Gemurmel und Stimmen zu hören, als er zur Treppe zurück und ein Stück hoch wich, den Schattenmenschen aus dem Weg springend, als wäre er wieder ein behändiger Zwanzigjähriger. »RAUS AUS MEINEM HAUS!« brüllte er die Gestalten an, die in die Küche entschwanden, ohne darauf zu reagieren. Er schnappte mit einer Hand nach einer der Schattengestalten, und war sich nicht sicher, ob er sie verfehlt oder einfach hindurchgegriffen hatte. War dies ein Albtraum? Aber er neigte doch gar nicht zu schlechten Träumen.
»Was wollt ihr von mir?!« fragte er fast verzweifelt, als noch eine weitere Schattengestalt folgte, augenscheinlich eine schwere Tasche mit sich tragend, und noch eine. Die Intensität des Blaulichts hatte sich mittlerweile verdoppelt und tauchte das Treppenhaus alle paar Sekunden in ein unnatürliches Licht, doch mit ein paar Momenten Verzögerung, als wären es zwei asynchrone Lichtquellen, von denen ein oder zwei Sekunden später aufleuchtete. Das Gefühl eines Déjà-vu überkam ihn, als hätte er all dies schon einmal erlebt, vor vielen Jahren.
Er beugte sich über das Treppengeländer, und wagte einen kurzen, ängstlichen Blick in die Küche, in der er vier Schattengestalten um einen fünften Schatten gebeugt sah, der eingesunken am Tisch saß – die Hand auf einem kleinen, hölzernen Kasten.
Und er wusste:
Dies war das Ende.