
DFin – Ficos Erwachen
15/11/2020
DFiN – 5
10/12/2020Nils Blick verharrte auf dem Gewehr.
War es denn feige, freiwillig zu gehen? Oder war es nur ein natürlicher Instinkt zur Flucht, der einsetzte, wenn alle anderen Fluchtmöglichkeiten erschöpft schienen?
Waren sie denn nicht alle geflüchtet, als die Lange Nacht begann?
Er atmete schwer aus und ein. Die Bilder, die über alle Monitore flirrten, waren ihm nur noch schemenhaft im Gedächtnis. Dunkle Umrisse, so verwackelt, dass man kaum ein Detail ausmachen konnte. Sie waren vor dem TV gesessen und hatten noch gescherzt, dass sie wohl alle lieber bessere Fliegengitter an Türen und Fenster brauchten, wenn eine Horde „Riesenheuschrecken“ vorbeikäme. Gab es nicht immer wieder Heuschreckenplagen? Schlecht für die Landstriche, die es traf, und deren Getreidefelder und Gemüsebeete litten. Schlecht für die, die deswegen dann Hunger leiden mussten, oder ihre Existenzgrundlage verloren. Aber gefährlich? Was war an einem Haufen „Riesen-Schwärmer“ schon gefährlich?
Aber die undeutlichen Punkte auf dem Monitor wirkten ja auch klein. Viel kleiner, als sie in der Realität waren. Und viel weniger tödlich. Es war einfach eine kleine Katastrophe, die sich weit weg ereignete, erwähnt wurde – und dann wieder vergessen. Denn täglich passierten zig Katastrophen, und unzählige Menschen waren betroffen, nicht? Wie hätte man ahnen sollen, dass aus einem kleinen einfallenden Schwarm, aus kaum mehr als zwei Hand voll Tieren bestehend, die eine Kuh rissen, ein Übel werden würde, dass sich was man auch tat aus dem Boden bohrte und auferstand, um wie eine Plage über sie alle zu kommen?
Erst hieß es, es wäre örtlich begrenzt. Schießkommandos kümmerten sich darum, dass die Schwärme gar nicht erst von der Stelle kamen. Dann traf es die ersten Menschen und die Regierung beschloss, den Biestern mit Gift zuliebe zu rücken, wie sie es bei anderen Insektenplagen taten. „Strider“ klang nicht bedrohlich, dachte man an die kleinen Wasserläufer, die diesen Namen ebenfalls trugen.
Sein leer wirkender Blick hob sich und bohrte sich desinteressiert durch eine der Wände, irgendeinen undefinierbaren Punkt fixierend, der gar nicht wirklich existierte.
Die Regierung hatte die Situation doch im Griff, nicht? Gut genug, dass es sogar Umweltaktivisten gab, die Demonstrationen organisierten, gegen die endgültige Vernichtung der Biester. Sie hätten ein Recht hier zu leben, denn sie waren schon vor uns da.
Aber die Strider waren nicht einfach zu groß geratene Vertreter ihrer Art, denen die globale Erwärmung optimale Bedingungen bot, um sich wieder aus dem Schlamm der Seen, Tümpel und Teiche empor zu arbeiten. Und die Strider verschwanden auch nicht, nach dem sie gefressen hatten, und ihre Eier ablegten. Eier die ein Larvenstadium durchlebten, nicht fünf. Eier die in lebenden Wirten abgelegt wurden, nicht auf unscheinbaren Wasserpflanzen.
Aber es dauerte, dies herauszufinden. Lang genug, dass unzählige Wasserstellen sinnlos mit Pestiziden vergiftet wurden, in der Annahme, dies unterbräche den Zyklus. Lang genug, dass unzählige Menschen flüchteten, aus Gebieten mit Gewässern, hinein in die urbanen Zonen die weiter weg von eben solchen gelegen waren. Lang genug, dass so viele Menschen zusammenkamen, dass Städte einen reich gedeckten Tisch boten. Denn in ihnen gab es immer ein dunkles Eck. Einen Luftschacht, den man nicht vollständig schließen konnte. Eine versagende Glühbirne.
Er gab sich einen Ruck, stand auf und hängte das Gewehr zu den Anderen. Repariert, aufpoliert und griffbereit.
War es so verwerflich, aufzugeben?
„Hydra“ wäre ein besserer Name für die Strider gewesen. Denn so war es. Man erschoss einen und drei kamen nach. Man erschoss drei und zehn folgten. Man gab einen Schuss auf dem Feld ab, und ein ganzer Schwarm erhob sich.
Wäre es so verwerflich, aufzugeben?
Seine Hand glitt in die Seitentasche seiner abgewetzten Cargo-Hose. Das kühle Metall der Kugeln, von der jede eine Kerbe besaß für einen Menschen den er an die Biester verloren hatte, beruhigte ihn.
Vermutlich war es das nicht einmal, so sehr er Sören dafür verteufelte, ihn im Stich gelassen zu haben. Aber Sören hatte im Gegensatz zu ihm auch nichts mehr wirklich zu erledigen, auf dieser Welt, die obwohl sich alles um das rettende Licht drehte, doch dunkler geworden war, als sie es sich alle jemals hatten vorstellen können.
Das Klappern der improvisierten Tür zum Hühnerverschlag riss ihn unvermittelt aus den Gedanken und kurz innehalten, ehe er fluchtartig die Scheune durch das rückwärtige Tor verließ. Nils wollte niemanden begegnen.
Nicht, wenn ihm eine Wahl blieb.