
Die Totenglocke – Part 3
31/01/2021Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag im Mai, als unsere nächste Kunst-Exkursion anstand. Nicht, dass ich dem Fach “Kunst” sonderlich abgeneigt war, aber die ständigen Ausflüge gingen mir gewaltig auf die Nerven. Meistens führten sie in irgendwelche Gemäuer und waren begleitet von ellenlangen Vorträgen zur Architektur der Zeit, dem dieses Bauwerk entsprang. Manchmal fragte ich mich ob meine Kunstlehrerin nicht lieber Architektur hätte studieren sollen, denn vor lauter Betrachtung von Dachgiebeln und Baustilen blieb oftmals wenig Zeit für die eigentliche Kunst, die sich oft im Inneren dieser Gebäude verbarg.
Ob es nun die prächtig gestalteten Altäre der katholischen Kirchen oder einfachen Holzschnitzereien der evangelischen Gemeinde waren oder die Ausstellungen der moderneren Kunstmuseen: Oft genug wurden wir nur weiter gescheucht, um uns einen neuerlichen Vortrag über die unglaubliche architektonische Leistung anzuhören, die bei dieser oder jener Gewölbekuppel zu Tage getreten war.
So freute ich mich auch nicht sonderlich auf diesen Ausflug. Wieder eine Kirche, in einem abgeschiedenen Dorf, die der Bombardierung im zweiten Weltkrieg glücklicherweise entgangen war und daher einen kleinen “Schatz” bildeten, wie meine Lehrerin zu sagen pflegte. Wieder stundenlanges ablaufen von Treppenhäusern, Türmchen und die Betrachtung völlig vergilbter Fensterbänke, die aber noch fast und quasi original waren, oder zumindest der ursprünglichen Architektur entsprachen. Wieder zusammengepfercht mit Dutzenden anderer Jugendlicher, von denen mich mehr als die Hälfte nicht im Ansatz leiden konnten – was auf herzlicher Gegenliebe meinerseits beruhte, denn für mich waren es verzogene Gören, die im Leben ohnehin nicht viel auf die Beine stellen würden.
Nicht, dass ich ein kompletter Außenseiter gewesen wäre. Nein, ich hatte Freunde. Aber nach meinem Umzug in den Vorort, den ich nun mein zu Hause nannte, hatte ich auch die Schule gewechselt. “Zum Besseren”, wie meine Eltern meinten, ohne je auf die Idee zu kommen, mich zu Fragen. Ja, meine neue Schule war wohl besser aufgestellt als meine Alte und konnte sich Klassenausflüge und Projektteilnahmen besser erlauben. Auch die Qualität der Lehrer und des Unterrichts lagen höher, jedenfalls wenn ich den Anspruch an uns Schüler bedenke, der dort wesentlich höher war, als auf meiner alten Schule.
Aber die Schülerschaft bestand dafür zu einer guten Portion aus Snobs, die nur beim Mittagessen ein wenig die Tränendrüse drücken mussten um das neueste iPhone am nächsten Tag als kleines Präsent vor dem Schulranzen zu finden, oder eben aus Landpomeranzen, wie sie einem Agatha-Christie-Roman entsprungen hätten sein können. Ohne Sinn für die große und weite Welt, nur fixiert auf das nächste Schützenfest und eine möglichst gute Partie bei der Partnerwahl.
Meine Familie und ich hatten weder mit dem einen, noch mit dem anderen viel zu tun. Hätte meine Mutter nicht eine neue Stelle als Pflegerin angetreten und deswegen umziehen müssen, wären wir wohl in der Großstadt geblieben. Mein Stiefvater und sie waren glücklich darüber, aus unserem alten Viertel weg zu ziehen. Was einst eine dicht besetzte Hochhaussiedlung war, hatte sich im Lauf der Jahre immer mehr zu einem der Ghettos entwickelt, wie sie heute in jeder Großstadt zu finden sind, inklusive aller sozialer Probleme. Ab und an stellte ich mir damals vor, wie es wohl wäre, die Schülerschaft meiner neuen Schule würde auf das illustre Klientel meiner alten Penne treffen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass einige iPhones – wenn auch von einer Seite unfreiwillig – den Besitzer gewechselt hätten, während ich stumm lachend danebengestanden hätte, mir in Gedanken bereits die Bettelei vorstellend, die am nächsten Tag beim Frühstück los gewesen wäre, in diesen gut betuchten Familien. Oder aber auch die Klagen der Landpomeranzen vor Augen, die wie kleine Irrlichter herumgespukt wären in meinem Kopf, bei Vati am Stammtisch unter Tränen erzählend, wie furchtbar verdorben die Großstadt und Jugend doch geworden sei und dass all die Gerüchte stimmten.
Aber sie trafen nie aufeinander, und wenn ihr jetzt glaubt, ich wäre einfach nur ein böser Mensch der sich am Ungemach anderer erfreut, irrt ihr gewaltig. Ich bin nur für Gerechtigkeit, und darin, dass manche so viel und andere hart arbeitende Leute so wenig haben, sehe ich keine Gerechtigkeit. Ebenso wenig darin, dass man mit seinem Reichtum in einer Gegend protzt, in der kaum jemand etwas hat, außer Existenzängste und Sorgen darüber, wie man die nächste Miete berappt.
Es wunderte mich, kannte ich meine Mitschüler mittlerweile doch etwas besser, an diesem Maitag also nicht wirklich, dass einige in den schicksten und neuesten Anoraks auftauchten, die kaum unter einhundert Euro das Stück zu haben waren. Es wunderte mich viel eher, dass sie für den gut sieben Kilometer langen Weg von der Bahnstation bis zu der Kirche, die heute unser Ziel war, nicht noch Trekking-Ausrüstung am Leib trugen. Vermutlich hatte der eine oder andere sogar darüber nachgedacht, aber sich dagegen entschieden; besonders cool wirkten klobige Wanderstiefel eben nicht gerade.
Wirklich zum Lachen brachten mich allerdings einige der Mädels, in ihren hochhackigen Stiefeletten und Schühchen, die vielleicht der letzte Schrei sein mochten, jedoch denkbar schlecht für alte ausgetretene Wanderpfade waren.
Hätte es mich daher verwundern sollen, dass wir eine Zwangspause verordnet bekamen, kaum dass wir die Kirchgemeinde erreichten, weil einige der Mädchen bitterlich klagten?
Nein, auch das wunderte mich nicht. Allerdings die Dreistigkeit meiner Mitschülerinnen, sich auf die einst sicherlich prachtvollen, heutzutage aber eher verwittert wirkenden großen steinernen Sarkophage zu setzen, die hier und da über den Friedhof verteilt waren, der zur Kirchgemeinde gehörte. »In Ermangelung anderer Sitzgelegenheiten,» wie Emma mich wissen ließ – eine der vorlautesten der Mädchenclique, die sich der Schickeria schon in so jungen Jahren anscheinend vollends verschrieben hatte.
Es kam, wie es kommen musste.
Meine Lehrerin wollte gerade ansetzen der Mädelsrunde zu erklären, dass obwohl die Sarkophage und Steinsärge ungepflegt wirken mochten mit ihren moosüberwucherten abgeplatzten Ecken und Kanten, ihnen doch immer noch etwas Heiliges und Ehrbares inne wohnte, da öffnete sich die schwere schmucklose Holztüre der alten Pfarrei.
»Was fällt euch ein?!« blaffte der alte Gemeindepfarrer, der bestimmt schon seinen Sechzigsten hinter sich hatte, in einer Lautstärke, dass eines der Mädels vor Schreck von einem angeschrägten Steindeckel abrutschte. Sehr zu meinem Gefallen, wie ich gestehen muss.
»Haben euch eure Eltern nicht wenigstens ETWAS Anstand beigebracht?« herrschte der alte Mann unsere Gruppe weiter an. Auch hier muss ich ein Geständnis ablegen: Ich mochte ihn, selbst wenn ich sonst den großen Kirchen und damit verbundenen Kirchenmännern nicht sonderlich zugeneigt war.
»Verzeihung, die Mädchen haben es nicht so gemeint.« entgegnete meine Lehrerin nach einer Schrecksekunde, einen mahnenden Blick zu dem Grüppchen werfend, das jetzt in stummer, vorgetäuschter Reue die Häupter senkte. Ich war mir sicher, dass sie innerlich kicherten und es ihnen kein Stück Leid tat. Das war eben, wie sie sich allesamt verhielten. Ihnen gehörte die Welt, wo sie gingen und standen, einfach nur, weil sie waren, wer sie waren.
Erinnert ihr euch, dass ich sagte, ich bin kein bösartiger Mensch, der sich am Unglück anderer ergötzt, aber jemand, der Gerechtigkeit mag?
Nun, dies war eine Form von Gerechtigkeit. Jemand der dies “Nach-Mir-Die-Sintflut”-Verhalten bloßstellte und es sich nicht gefallen ließ. So wie meine alten Kumpel es sich nicht hätten gefallen lassen, wenn eine Horde geldprotzender Möchtegern-VIPs in meinem alten Viertel aufgelaufen wäre.
Zu meinem Bedauern – und wie sich später herausstellen sollte, wohl zum Unglück einiger von uns – ließ es der Pfarrer auf sich bewenden, der Reue wohl Glauben schenkend. Wie hieß es doch oft so schön? Gott vergibt alles.
Unser Aufenthalt auf besagtem Friedhof war jedenfalls zu einem abrupten Ende gekommen und viel reichlich kurz aus, da uns der alte Herr in seinem schwarzen Pfarrgewand in die Kirche hinein geleitete. Gerade noch rechtzeitig, denn es war ein ungewöhnlich kalter Maimorgen zu dem sich nun auch noch dunstiger, feuchter Nebel gesellte. Selbst ich empfand das Wetter als unfreundlich. Von der Atmosphäre, die allmählich aufkam, ganz zu schweigen.
Die meisten Gräber waren sehr sehr alt. Teilweise noch aus der Römerzeit, wie der Pfarrer uns später erzählen sollte. Dies erklärte auch die Steinsärge, die man verteilt auf dem Gelände fand. Häufig verziert mit Reliefschmuck und Motiven aus der Mythologie erregten die alten Grabmale nur mäßig mein Interesse, denn das meiste konnte man eh nicht mehr erkennen.
Dafür fiel mir etwas anderes ins Auge: Kleine Glocken, die an alten Grabsteinen hingen. Ich hatte schon einmal davon gehört, dass diese Totenglöckchen – oder Grabklingeln – immer mal in Mode kamen, oder aus dieser verschwanden, je nachdem, wie groß die Taphephobie gerade in der Bevölkerung war. Taphephobie, so fand ich später heraus, bezeichnet die Angst lebendig begraben zu werden. Die Glöckchen am Grab wurden mit einer feinen Schnur an der Hand oder einem Zeh des (vermeintlich) Toten befestigt, so dass schon kleine Bewegungen des Begrabenen dafür sorgten, dass diese klingelten, und damit “Leben” anzeigten. Eine gute Idee. In der Praxis zeigte sich aber leider, dass die Totenglöckchen vor allen Dingen dann klingelten, wenn die Totenstarre einsetzte oder andere Fäulnisprozesse den Leichnam bewegten.
Doch von all dem noch gar nichts wissend, an diesem nebligen Tag im Mai, schloss ich zum Pfarrer auf, nachdem ich einer Weile den kunstbaulichen und architektonischen Ergüssen meiner Lehrerin gelauscht hatte. Sie schien selbst dem alten Herrn die Geduld und das Interesse zu rauben, als sie zum dritten Mal die Kuppeldecke des Kirchenschiffs hervorhob, die erst zum Ende des letzten Jahrhunderts hin umgebaut wurde – sprich: Gar nicht mehr vorhanden war in dieser Form.
»Sagen Sie,« setzte ich an, kurz irritiert von seinem Lächeln, als ich endlich aufgeschlossen hatte, »wie alt ist der Friedhof?«
Der alte Mann lächelte mich weiter an, auch wenn ich meinte ein verschmitzt bis verlegenes flüchtiges seitwärtsblicken der leicht trüb wirkenden Augen wahr zu nehmen, während ich mit ihm Schritt hielt, da er keineswegs stehen blieb. »So genau weiß ich das nicht mein Sohn.«
»Und was hat es mit den Glöckchen an den Grabsteinen auf sich?« bohrte ich wissbegierig weiter, ohne dass sich der Pfarrer davon groß aus der Ruhe bringen ließ.
»Nun, diese Grabklingeln wurden früher an Gräbern angebracht, damit die Scheintoten, wenn sie denn zu Unrecht begraben wurden, auf sich aufmerksam machen und somit aus ihren Gräbern geholt werden konnten. Heute passiert das natürlich nicht mehr, bei all der modernen Medizin und all den Prüfungen bevor überhaupt ein Totenschein ausgestellt wird. Und ohne diesen Totenschein dürfen und können wir niemanden begraben.«
»Und ist hier schon mal irgendjemand lebendig begraben worden?« verlangte ich zu wissen, denn dieses Thema übte einen morbiden Reiz auf mich aus, den ich mir selbst nicht ganz erklären konnte. War es die Angst, die den Gedanken begleitete, nach einem Unfall oder anderem Ereignis plötzlich in völliger Schwärze aufzuwachen um festzustellen, dass man sich mehrere Meter tief in der Erde in einer Holzkiste befand? Oder war es die Faszination zu wissen, dass dies in gar nicht allzu weit zurückliegender Vergangenheit immer wieder vorkam?
»Es gibt da diese Geschichte, über eine Frau namens Elise Friedel. Sie war schon recht alt, als der Herr sie zu sich holte. Nun ja, so gesehen zwei Mal. Es heißt, nach ihrer Beisetzung hätte ihre Tochter keine Ruhe gefunden. Verständlich, denn Trauer wiegt schwer. Aber sie beteuerte da sei noch etwas anderes und bat inständig darum, noch einmal die Erde abzuheben, um nach zu sehen, ob auch alles in Ordnung sei. Dies zog sich eine Weile hin, bevor der zuständige Pfarrer sich überzeugen ließ, die Grabaushebung anzuordnen. Dann fand man sie, mit zerschundenen Händen. Die Finger hatte sie sich vor Verzweiflung angenagt, und am Sarg gekratzt. Das arme Ding. Auf der Seite gekrümmt, nicht in der Ruhepose der Toten lag sie dort. Aber das ist ewig her, mein Sohn und war schon lange vor meiner Zeit. Die Zahl der Grabklingeln schnellte natürlich in die Höhe, nach diesem Ereignis. Deswegen siehst du auch so viele davon.«
Ich nickte still. Lebendig begraben zu werden erschien mir als eine der schlimmsten Dinge, die passieren konnten. Wie es wohl sein musste, in das tote kalte Erdreich hinab gelassen zu werden und in völliger Dunkelheit wieder auf zu wachen? Wie es sich wohl anfühlte, wenn die Erkenntnis langsam zu Dämmern begann, dass es keinen Ausweg gab? Wie ein Mensch wohl empfand, wenn er merkte, dass der goldene Lebensfaden noch gar nicht gekappt war und das unsichtbare Räderwerk der eigenen Existenz wieder anlief? Wie ein vollkommener Stillstand, der einen so abrupt ereilt, dass man nicht einmal mehr zum Blinzeln kommt; und doch – trotz allem – nur ein Intermezzo, eine Unterbrechung und kein endgültiges Urteil. Als hätte man die Pause-Taste des Videorecorders gedrückt und nur ein paar Momente zu lang gebraucht, die Aufnahme nach der Werbung wieder aufzunehmen und somit ein paar Sekunden oder Minuten verpasst, die im Großen und Ganzen betrachtet nicht einmal zur Handlung beitragen mochten oder irgendwie “wichtig” waren und doch – für den Schöpfer des Werks – wohl von unerlässlicher Qualität, da er sie sonst nie in seinen Film geschnitten hätte. Wo wohl eben jener Schöpfer unserer selbst war, während dieser kurzen Auszeit und völligen Dunkelheit, die nur durch das Dämmern des Grauens der Situation in der sich ein lebendig Begrabener wiederfand überflügelt wurde? Und wo waren wir während dieser “Pause”? Wo unsere Seele, wo unsere Gedanken, bevor uns das Unaussprechliche Übel heimsuchte in dem wir uns befanden, genau in dem Moment in dem wir wieder die Augen öffneten und wohl erwarten im Bett zu liegen und unsere wohlvertraute Zimmerdecke ein weiteres Mal anzustarren?
Modrige Luft die einem die Lungen füllte. Die ersten stümperhaften Versuche die steifen Arme und Beine zu regen, verzweifelte Schreie als die Unerbittlichkeit des eigenen Schicksals endlich die nur langsam in Bewegung kommenden Gedanken anstieß zu begreifen, welch Qual direkt vor einem lag. Ersticken, in diesem einsamen, dunklen, feuchten Grab, das nur einem gehörte: Mir.
Ich schrie auf – oder bildete es mir nur ein?
»Anja, Mirko, Thorsten, Oman, Lukas, Sybille und Alicia, RAUS!«
Diesmal schrie definitiv nicht ich.
Ich erinnere mich eigentlich nur noch an diese drei Dinge: Meinen Schrei, der so urplötzlich aus mir kam, wie mich die Vorstellung einholte, ich läge in diesem Grab und fechte meinen letzten qualvollen Kampf gegen dieses grausame Schicksal. Meine Lehrerin, die wohl genug hatte von meinen sechs Klassenkameraden, die den Ausflug lieber nutzten um an ihren Smartphones zu hängen oder Faxen zu treiben – und natürlich mir, da ich die Ruhe störte – und zuletzt an die entsetzten Blicke meiner restlichen Schulkameraden, denen ich einen kräftigen Schreck versetzt hatte. Lang blieben diese ungläubigen und erschrockenen Züge jedoch nicht bestehen. Ihnen folgte Häme, Lachen und Ungläubigkeit, als meine Lehrerin uns allesamt hinauswarf.
»Gut gemacht, Lukas,« ergriff Oman das Wort als wir draußen waren, »nun stehen wir in diesem Pisswetter draußen und frieren uns den Hintern ab.«
Sie waren alle wütend auf mich, auch wenn nur Oman sich herab ließ überhaupt mit mir zu reden, als wir zurück auf den nebelverhangenen Friedhof stiefelten. Ich schwieg, soweit ich mich erinnere, oder grunzte etwas unverständliches. So oder so: Ich wollte nicht noch mehr Ärger in der Schule, also zog ich es vor, ihnen nicht vollmundig zu erklären, dass es doch ihre eigene Schuld sei, wenn sie in einer Kirche am Handy hingen und nicht nur den Unterricht ignorierten, sondern auch noch störten. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass sie negativ auffielen. Eigentlich verging keine Kunststunde ohne, dass sie ermahnt wurden. Lediglich, dass ich diesmal dazu gehörte war mehr als außergewöhnlich.
Zu meinem Glück – oder Unglück, je nachdem wie man es betrachten mag – ließ Oman die Sache auf sich beruhen und scharrte lieber die Jungs um sich. Schon seltsam, wie man älter und älter werden kann, das »Erwachsensein» fast schon vor der Nase habend, und dennoch am Ende das tut, was man schon 10 Jahre zuvor im Kindergarten tat.
Heute spielten Mirko, Thorsten und Oman “Entdecker”, gefolgt von den drei Mädchen. Was diese spielten, außer “vergleichen wir unsere Schuhe” und “sieh mal wie dreckig die jetzt schon sind”, erschloss sich mir jedoch nicht ganz. Nicht, dass ich kein Interesse an Mädchen hatte. Altersgemäß konnte ich auch an keinem Paar Brüste vorbeilaufen, ohne einen beständigen Kampf mit meinen Augäpfeln zu führen, doch bitte nicht ins letzte Eck des Augwinkels zu rollen, um doch noch einen Blick zu erhaschen. Aber diese Mädchen spielten in einer ganz anderen Liga. Einer, in der ich nichts verloren hatte, wie sie mir gewissentlich und beständig zu zeigen und sagen pflegten.
»Es ist kalt.« bemerkte Anja, und ich pflichtete ihr innerlich bei. Es war wirklich kalt geworden.
Wir suchten uns einen Unterstand. Die Wahl fiel auf eine offenstehende kleine Krypta, mehr ein Stein“häuschen”, zwei Meter breit und etwas mehr als zwei Meter lang. Sie stand wohl schon lange leer und die vordere Mauer, die einst eine schwere Tür barg, war wohl schon vor vielen Jahren zerbröckelt. Nur noch einzelne moosüberwachsene steinerne Partien ragten aus dem Erdreich wo sie einst stand. Kein Hindernis, das uns davon abhalten konnte, ein wenig Schutz vor Wind und Wetter zu erhalten.
Für mich und die drei Mädchen war dort mehr als genug Platz. Dennoch hatte es etwas Unheimliches, dort zu sein. Weniger wegen dem kahlen Stein, der nur noch Moos und Insekten eine Unterkunft stellte, als vielmehr wegen dem Anblick, der sich uns dann bot.
Die alten Bäume ragten wie gespenstische dunkle Gerippe vor der milchig-trüben Kulisse des Nebels hervor, als wären sie stumme Mahnmale des Lebens, doch gleichsam in Begriff, den Kampf gegen diesen Ort zu verlieren, der Verlust und Tod bedeutete. Ich erkannte einige Ahorn-Bäume, die sicher schon ein Jahrhundert Lebenszeit hinter sich hatten, wenn nicht mehr. Sogar eine Fichte und ein kleines Grüppchen Birken war noch durch den Nebel zu erspähen. Eine Seltenheit, da der Klimawandel auch vor Friedhöfen nicht Halt machte und diese Baumsorten häufig zuerst abstarben.
Viel Augenmerk hatte ich für die Bäume aber nicht. Mehr fesselte mich der Anblick der alten Grabsteine und noch älteren Steinsärge. Immer, wenn sich der Nebel verdichtete, verschluckte er ein weiteres Grab. Als hätte sich eine düstere Wolkenwand über das Gelände ergossen näherte er sich vom Waldsaum her immer weiter heran und schob sich wie eine gefräßig walzende Bestie über alles was er fand, Pflanzen und Grabsteine dabei genauso verschluckend wie den gusseisernen Zaun, den man vor wenigen Minuten noch sehen konnte. »Die alte Begrenzung des Friedhofes,« wie uns der Pfarrer erklärt hatte, »noch aus viktorianischer Zeit, aber leider nicht mehr in diesem kunstfertig-opulenten Stil – das konnte sich unsere kleine Gemeinde einfach nicht weiter leisten.«
Seltsam, dass mir ausgerechnet dies im Gedächtnis blieb. Vielleicht, weil die Begrenzung etwas Tröstliches hatte. Dieser Platz, dieser Friedhof hatte ein Ende. Durchschritt man das schwere gusseiserne Tor, ließ man all dies hier zurück und gehörte wieder ganz der Welt der Lebenden, mit all ihren Lichtern, Annehmlichkeiten, Passanten und Fahrzeugen. Zumindest wenn man dem Pfad bis ins Dorf folgte, das sich dem Bahnhof anschloss.
Aber gerade? Gerade erschien der Platz auf dem wir uns befanden so unwirklich, wie er gleichermaßen endlos erschien. Waren es fünf Grabreihen, bis zum Zaun? Oder zehn? Mehr?
Das milchweiße, trübe Monster, dass sich den Friedhof allmählich einverleibt hatte, verriet es mir nicht. Es fraß sich nur weiter durch Stein und Gestrüpp, bis man das Gefühl hatte, in einem schwarz-weiß-Film gefangen zu sein, dessen Ende vollkommen ungewiss war.
Oder sollte ich sagen: Unser Ende war ungewiss?
Ich weiß nicht ob ich es an einem anderen Ort so empfunden hätte, aber hier, in dieser Krypta, umgeben von den Toten mehrerer Jahrhunderte die in der Erde des umliegenden Friedhofs vermoderten, brachte der Nebel nicht nur das klamme Gefühl nass-kalter Kleidung mit sich. Nein, auch das Gefühl einer beständigen, dort draußen verborgenen Bedrohung folgte ihm.
Oman, Thorsten und Mirko schienen dies wohl nicht so zu empfinden wie ich. Oder vielleicht fühlten sie dasselbe, und traten genau deshalb zur Gegenoffensive an. Es mag makaber klingen, aber ich konnte mich in dieser Situation nicht entscheiden, ob es etwas Beängstigendes oder Tröstendes war, wenn der Wind ihre Stimmen immer mal wieder zu uns trug, während sie zwischen und auf den Gräbern turnten und ihre »Entdeckungstour» fortsetzten, dem Nebel vollkommen zum Trotz.
Ich weiß nur noch, dass ihre Stimmen irgendwann immer leiser und zunehmend gedämpfter zu uns drangen, bis sie zu einem Flüstern wurden und dann ganz von der Bestie verschluckt, die nun sogar die Krypta zu füllen schien. Dieselbe Bestie, die aus uns zurückgebliebenen Vier obskure bein- und armlosen Gestalten machte, unsere Körper bis zur Brust verschluckend, in ihrer Gier.
Erst jetzt fiel mir auf, dass auch die Mädchen allmählich verstummt waren, die nun still und dichtgedrängt im hinteren Teil der Krypta standen. Wir waren zu jung – oder zu dumm? – um der allmählich aufkeimenden Angst Ausdruck zu verleihen. Ein verschämter Blick, den ich senkte, als könnten andere sonst Lesen, dass auch ich spürte wie die Angst langsam ihre klammen, kalten Finger um mein Herz legte und dieses schmerzhaft in der Brust zusammendrückte – zu mehr war ich selbst nicht in der Lage. Wie es schien erging es den Mädels aus meiner Klasse nicht so viel anders, auch wenn sie geschickter darin waren, es zu überspielen. Hier musste eine Haarsträhne an der Nebenfrau zurecht gezupft werden, da hatte sich eine Hose in unvorteilhafte Falten gelegt. Das leise Lachen dabei klang aber in zunehmenden Maßen nervöser.
Die Stille wurde fast dichter als der Nebel, als das Lachen auch noch verklang. Fast als würde der Nebel nicht nur das Antlitz der Welt verschlucken können, sondern sich auch die Geräusche dieser einverleiben. Ich schluckte hart und dachte für einen Moment, es wäre so laut gewesen, als dass jeder in fünfzehn Metern Umkreis es hätte hören müssen, doch dem war nicht so.
Nervös nestelte ich mein Handy heraus. Ich weiß nicht einmal mehr genau wieso. Aber genau das tut man doch, wenn man im Nebel unterwegs ist, nicht? Die Nebelscheinwerfer einschalten, um die stickige Bestie entzwei zu teilen, die alles daran setzte, die eigenen Sinne zu verwirren. Mein Handy hatte eine Taschenlampenfunktion.
Die Mädchen kicherten, als sie meine unbeholfenen Bewegungen sahen. Mein Handy gehörte nicht zur neuesten Generation der kleinen Smartphones, die handlich wie sie waren, mühelos in jede noch so enge Hosentasche passten. Es war älter, größer, und – zu meinem Leidwesen – sehr bemüht, sich nicht unspektakulär und cool heraus ziehen zu lassen, in einer selbstverständlichen Bewegung, als würde ich dies hundert Mal am Tag machen.
Sie kicherten wieder, als ich es endlich aus meiner Jackentasche befreit hatte, doch klang es hoch, und fast etwas schrill. Ich blickte auf, denn irgendetwas an der Art des Kicherns ließ mich aufschrecken. Doch die drei Mädels standen nur weiter dichtgedrängt beieinander. In dem dunstig-nebligen, spärlichen Licht, dass in die Krypta fiel, konnte ich nicht viel ihrer Züge erkennen. Undeutliche, leere Grimassen. Die Haut wirkte weiß, als hätte ich es mit einer der Engelsstatuen aus Marmor zu tun, die man manchmal auf Friedhöfen sah. Ich schauderte und lenkte meinen Blick lieber wieder auf mein Handy. Ich wollte nicht weiter in diese Fratzen starren, die wie aus Stein gemeißelt wirkten. Zu groß war diese diffuse, unbegründete und kindische Angst, ich würde nur schwarze, leere Höhlen vorfinden, wenn ich versuchte einen Blick auf ihre Augen zu erhaschen. Oder ihre Augen sehen, vor Entsetzen und Panik geweitet, weil sie etwas im Nebel entdeckt hatten, dass mir entgangen war. Wie in einem schlechten Horrorfilm, wenn die – meist jugendlichen – Protagonisten endlich erkannten, in welch furchtbare Situation sie geraten waren und dass ihr sicheres Ende unmittelbar bevorstand.
Ich war so unendlich dankbar, als ich die Einschalt-Taste meines Handys endlich erwischte und der Bildschirm matt aufleuchtete.
Und dann schrie ich.
Gott im Himmel, ich könnte schwören, ich habe so laut geschrien, dass man es sogar in der Kirche noch hätte hören müssen. Aber dem war wohl nicht so, denn es kam niemand, um nach uns zu sehen. Mein panischer Aufschrei genügte dennoch, die drei Mädchen ebenso panisch aufkreischen zu lassen, sah man einmal von Anja ab, die nur ein halb ersticktes, seltsames Quieken vor Schreck herausbekam. Oman und die anderen hatten sich im Nebel herangeschlichen und mir von hinten einen Schubs gegeben. Ich weiß bis heute nicht, wie sie es geschafft haben, sich so leise anzuschleichen. War ich zu sehr aufs Handy konzentriert? Es fühlte sich eher so an als wären all meine Sinne bis aufs Äußerste gespannt gewesen, so dass eben nichts und niemand die Chance hatte, sich unerkannt heran zu pirschen. Aber meine Klassenkameraden hatten es – mit Bravour und Erfolg – geschafft. Und ich mich – mit ebenso großem Bravour und Erfolg – erneut zum Trottel gemacht.
»Habt ihr den Arsch offen?!« entfuhr mir. Meine Wortwahl war damals noch etwas salopper, wohl dem Alter geschuldet. Aber es brachte auf den Punkt, was ich empfand. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, auf den Gräbern herum zu klettern, oder lärmend durch den Friedhof zu ziehen, als wäre es nur ein etwas makaber gestalteter Spielplatz, auf den es mich verschlagen hatte. Geschweige denn würde ich mich so durch den Nebel schleichen, und andere Leute erschrecken.
»Hab’ dich nicht so.« Ich weiß noch wie Oman lachte und mir das sagte, nur um mir dann auf die Schulter zu klopfen. Kameradschaftlich. Ein seltsames Gefühl, dass meinen Kopf fast zum Explodieren brachte. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, waren er, Thorsten und Mirko doch keine vollkommenen Vollidioten? Das war die Frage, die mich etwas ins Schleudern brachte. Denn ich konnte eine Freundschaftsgeste durchaus identifizieren, und vielleicht war dies ja der Wendepunkt. Vielleicht offenbarten sie mir jetzt Qualitäten, die ich leiden konnte. Dinge, die sie “mögbarer” machten. Existiert das Wort “mögbar” überhaupt? Ich nutze es seitdem nämlich immer wieder. Ein gutes Wort, das sehr genau beschrieb, wo man selbst stand, und wo man andere eingruppierte.
Vielleicht war es dieser Moment, der mich etwas aus der Spur warf. Es brachte mich durcheinander, Dinge zu sehen, die ich nicht als »idiotisch» einstufen konnte. Kameradschaft war mir jedenfalls heilig, damals wie heute. Manchmal zu meinem Besten, manchmal zu meinem Schlimmsten, wie ich gestehen muss. Und diese Geste, dieses »war doch gar nicht so gemeint, nur ein Scherz» das stumm im Schulterklopfen lag, das war etwas was Kameraden tun. Denn Jungs bleiben Jungs, und hätte uns damals versucht irgendwer all die Flausen auszutreiben und »gutes Benehmen» beizubringen, wäre er sowieso gescheitert. Diese Gesten der Verbrüderung waren viel wert, sehr viel sogar, denn sie waren universell anwendbar, wenn man einen Bruch oder Riss mit einem Anderen kitten und eine Basis schaffen wollte.
Also stand ich da, und brummte nur. Mir fiel nichts ein was ich hätte sagen oder erwidern können. Kein kluger Spruch, keine flotte Bemerkung, kein Witz. Dafür lachte Oman wieder, und legte einen Arm um meine Schulter. Ich weiß heute noch wie damals, dass es mir gleichermaßen angenehm wie unangenehm war, und ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich mich sträuben oder einfach mitmachen soll.
»Du bist doch kein Feigling!«. Ich erinnere mich an Omans Worte so gut, weil ich mich auch hier nicht entscheiden konnte: War es Unterstellung, Lob, Feststellung oder doch eine indirekte Frage? Oder wollte er nur wieder gut machen, dass er mich so vorgeführt hatte?
»Ne, bin ich ganz sicher nicht.» Ein paar Worte, die mir so einfach über die Lippen gingen. Es stimmte. Ich stufte mich nicht als Feigling ein. Der nasskalte Nebel und Friedhof mochten mir zugesetzt haben, aber weder fehlte es mir generell je an Mut, noch rannte ich den Konsequenzen meines Handelns je davon. Mein Vater, also mein »richtiger» Vater, hatte mich so erzogen. Nicht, dass ich mich nicht längst an meinen Stiefvater gewöhnt hatte. Wir kamen sogar recht gut aus. Aber ich hielt die Lektionen, die mein Vater mir mitgab, in Ehren. Er war oft weg, als Soldat. Aber wenn er da war, nahm er sich immer viel Zeit für mich. Brachte mir Dinge bei, die man als Mann später wissen sollte.
Ich schauderte, meinen vorherigen Worten zum Trotz. Oman schien es glücklicherweise in der milchigen Suppe, die um uns waberte, nicht richtig zu sehen. Es wäre mir auch schwergefallen, zu erklären, dass dies nicht passiert war, weil ich mir gleich in die Hose schiffe, sondern ich in so einer Umgebung einfach ungerne an meinen Dad dachte. Vielleicht, weil ich gerne ein »richtiges» Grab für ihn gehabt hätte, um zu Trauern, statt einem leeren Sarg das letzte Geleit zu geben.
Oman grinste. »Okay, dann beweis es!«
»Was beweisen?«
»Na, dass du kein Feigling bist.«
»Und wie?«
Mir schwante ungutes, aber ich konnte einfach nicht still bleiben. Das subtile “ja” war mir aber schon über die Lippen gerutscht, bevor ich überhaupt nachgedacht hatte.
»Schau mal was wir hier haben,« verkündete er feierlich und kramte in seiner Jackentasche, »vom hinteren Teil, is’ bestimmt das älteste Grab gewesen.« Er zog etwas mit leisem Klimpern heraus, und mir schwante fürchterliches. In seiner Hand kam eine kleine Glocke zum Vorschein, aus Bronze gegossen. Ein Emblem prangte auf jeder Seite, doch bei den schlechten Sichtverhältnissen und aufgrund der grün-rötlichen Patina, die sich über die Jahrhunderte gebildet hatte, konnte ich nicht erkennen was es zeigte. Trotzdem erkannte ich, was Oman da in den Händen hielt: Eine der Grabklingeln, an der wir vorbei gegangen waren.
»Wette du traust dich nicht, eine zu holen?«
Diese Worte klingen mir bis heute nach. Natürlich hätte ich mich getraut. Was war schon dabei, eine der kleinen Glocken abzuschneiden oder die Öse auszufädeln, an der sie aufgehängt waren? Aber ich wollte gar nicht! »Vergiss es, sowas ist Grabschändung, das tut man einfach nicht!«
»Ich wusste, er bringt’s nicht,» warf Mirko von der Seite ein, »der Spießer.«
»Nein, ich bin einfach nur kein Vollidiot der einen Friedhof verschandelt und die Ruhe der Toten stört!« Ich brodelte innerlich.
»Und abergläubisch ist er auch noch!« Mirko lachte, Oman lachte, die Mädchen kicherten, lediglich Thorsten lachte nicht, sondern hatte die Hände in den Taschen und sah sich gelangweilt um.
»Ey, dir ist schon klar, dass die tot sind und nichts mehr mitkriegen?«
Warum ich so zornig wurde, als ich das hörte, kann ich mir bis heute nicht erklären. Vielleicht stand es zu sehr im Widerspruch mit allem, das mir erzählt wurde um mich zu trösten, als mein Vater starb: Er wäre ja noch da, er würde auf mich aufpassen, vom Himmel herabsehen, sie sind niemals ganz fort – ich hatte die ganze Palette geheuchelter und ernstgemeinter tröstender Worte zum “Nachleben” gehört, und eigentlich auch gedacht, ich hätte mit dem Kapitel gut abschließen können. Aber in diesem Moment wallte so viel Wut in mir auf, dass ich überhaupt nicht nachdachte. Ich kann mich noch nicht einmal genau an diesen Moment erinnern, nur dass ich meine Faust ballte und etwas traf um einige Sekunden später selbst zu Boden gerissen zu werden. Oman war etwas kräftiger als ich, aber nicht viel, also war es wohl das, was man horizontale Gewalt nennt: Keine Seite konnte so Recht Oberhand gewinnen.
Ich landete wohl ein paar harte Schläge, und Oman geriet genauso in Rage wie ich, auch wenn ich zugeben muss: Im Grunde verteidigte er sich bloß und ich hatte die Beherrschung verloren. Es war zumindest schlimm genug, dass die Mädchen losliefen, Hilfe zu holen, während Thorsten und Mirko versuchten uns wütendes, am Boden herumrollendes Knäul auseinander zu sortieren, bevor einer einen ernsthaften Schaden davontragen konnte. Einfach machten es ihnen weder Oman noch ich, so dass sie uns gerade mühsam so weit voneinander weggezogen bekamen, dass uns nicht viel mehr blieb als hilflos-erbost nach dem jeweils anderen zu treten, in der Hoffnung, ihn doch noch zu erwischen, und diese Wut los zu werden, die sich aufgestaut hatte. Das ist mir noch in Erinnerung geblieben, genauso wie meine Lehrerin, die mit dem Pfarrer – und dicht gefolgt von meinen anderen Klassenkameraden, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten – ums Eck schoss. Vollkommen fassungslos darüber, dass wir uns auf einem Friedhof geprügelt hatten. Fast schon schadenfreudig wartete ich darauf, dass ihre Schimpftirade enden würde, um ihr von der Grabklingel zu erzählen, die aus Omans Hand gekugelt war, als ich ihm den ersten Faustschlag versetzt hatte. Wenn sie schon so wegen einem Handgemenge reagierte, wäre es bei der Beschädigung von Sacheigentum sowie ihrer Blamage vor Kollegiat, Rektor und dem Pfarrer, ihre Schüler so wenig unter Kontrolle zu haben, und dem Fakt, dass dies noch auf geheiligtem Boden passierte und ausgerechnet einem Friedhof, ganz vorbei.
Doch dann fiel mein kurzzeitig umherwandernder Blick auf Oman, der recht blass und still wirkte und ausnahmsweise keinen dummen Spruch auf den Lippen hatte. Mir schoss ins Gedächtnis, dass die Lehrer ihn schon mehr als einmal vor der Klasse daran erinnerten, dass er »schon genug auf dem Kerbholz hatte», und »lieber aufpassen solle». Und ich dachte an die Gerüchte darüber, dass er vor einigen Wochen fast von der Schule geflogen wäre, weil er in der Jungstoilette gezündelt haben soll. Ich hatte seit jeher nicht den besten Eindruck von Oman, aber dass er gezündelt hatte, das glaubte ich nicht. Viel mehr, dass er vielleicht eine Kippe nicht richtig ausgedrückt hatte und mehr Angst davor seinen Eltern zu beichten, dass er schon seit zwei Jahren diesem hirnverbranntem Laster verfallen war, als er davor hatte, als Brandstifter zu gelten.
So wie sein Vater drauf war, als er ihn an diesem Tag abholte, konnte ich es sogar irgendwie verstehen.
Vielleicht erinnert ihr euch noch, dass ich erwähnte, dass ich kein Arschloch war. Nun, vielleicht auch nicht gerade der größte Menschenfreund. Aber in diesem Moment regte sich, aus welchem Grund auch immer, Mitleid in mir. Ob es nun daran lag, dass ich es sowohl mit meinem Vater als auch Stiefvater viel besser getroffen hatte, oder daran, dass ich mir dachte, wer immer so gegen jede Vernunft auftrumpfen musste wie Oman konnte es in Wirklichkeit nicht besonders gut haben, weiß ich wirklich nicht mehr. Doch die Erinnerung daran, dass ich selbst ohne groß nachzudenken einen Schritt vor machte, ist noch lebendig.
Ich beugte mich unauffällig und hob die kleine Glocke auf, erpicht darauf achtend, den kaum fingerbreiten Miniaturklöppel festzuhalten, der in ihrer Mitte bedrohlich darauf lauerte, mich zu verraten. Emsig mit der freien Hand meine Hosenbeine abklopfend, als versuchte ich nur den Dreck los zu werden, zog ich auch ohne Gebimmel die Aufmerksamkeit meiner Lehrerin auf mich.
»Dich interessiert das wohl alles nicht, junger Mann?!« keifte sie mich an, mehr als erbost.
»Uhm… t’schuldigung, ich wollte nicht, dass die Hose weiter durchnässt, s’ n’ bisschen kalt…« brachte ich stammelnd hervor, was einige meiner Mitschüler in Gelächter ausbrechen ließ. Was als meinem Wohl dienende Ausrede gemeint war, kam wohl eher als flotter Spruch daher, der meine Lehrerin nur weiter in Rage versetzte. Aus dem Augwinkel erhaschte ich Omans Blicke, der sich fast panisch »unauffällig» versuchte nach der kleinen Grabglocke umzusehen, die ich mittlerweile in meine Jackentasche gepfriemelt hatte, ebenso wie meine zweite Hand, als wäre mir wirklich kalt. Ich merkte wie ich langsam röter und röter wurde, besonders da ich es versäumte meiner Lehrerin weiter zuzuhören, die sich jetzt vor mir aufbaute.
»Also…?«
Tja, also was? Ich war ratlos. Tief durchatmend fiel mir nichts Besseres ein, als mich dem Pfarrer zuzuwenden. »Es tut mir sehr leid. Wir wollten nicht respektlos sein.«
Der Pfarrer warf mir einen langen Blick zu. Prüfend, was mich noch stärker erröten ließ. Ich war mir sicher, mein Kopf brannte mittlerweile lichterloh, und alle sahen es, trotz der widrigen Sichtbedingungen, die dies eigentlich unterbanden. Zu meinem Erstaunen nickte der Pfarrer aber nur, und brummte: »Man stört die Ruhe eines Friedhofs nicht, dass solltet ihr beide wissen, in eurem Alter.«
Er wirkte zwar nicht direkt amüsiert, zu gewichtig und ernst war seine Miene, aber ich meinte, eine Spur von Schalk in seinen Augen aufblitzen zu sehen, als er noch anfügte: »Aber wer darf sich schon der Fehler schuldig bekennen, wenn nicht die Jugend?«
Ich atmete durch und deutete dies als Annahme meiner Entschuldigung.
Meine Lehrerin beruhigte sich zwar etwas und unterließ weitere Tiraden, kündigte aber an, sich mit dem Rektor über unser Fehlverhalten zu unterhalten, und diesen über mögliche Verweise befinden zu lassen. Dies mochte Glück im Unglück sein, denn unser Rektor war noch vom ganz alten Schlag, der manches Knuffen und Schubsen schon unter »Jungs sind nun mal Jungs» abgetan hatte, ob dies nun unserem Wohl förderlich war oder nicht. Damals war ich natürlich froh, über diese lasche, wenn nicht sogar dezent sexistische Sichtweise und machte mir wenig Gedanken darüber, ob es nun meine Entwicklung oder die anderer Jungs förderte, und wenn ja, in welche Richtung. Ich war einfach nur glücklich, dass wir wohl vermutlich ohne Verweise und wochenlanges Nachsitzen davon kamen. Ich zumindest.
Mein Blick striff wieder Oman, der nochmal zwei Nuancen blässer geworden war, als ein Gang zum Rektor angekündigt wurde. Ich ahnte warum.
»Frau Häuser?« fragte ich vorsichtig, als ich zu unserer Lehrerin aufgeschlossen hatte, nachdem diese wieder alle Schüler zusammentrieb um uns für den Rückmarsch zum Bahnhof zu versammeln. »Ich weiß wir haben uns falsch benommen. Aber ich muss ihnen sagen, dass ich es war, der angefangen hat.«
»Du?« Es schwang so viel Ungläubigkeit in ihrer Stimme mit, dass ich mich fast schon beleidigt fühlte. Aber das Gefühl hielt nicht allzu stark vor, denn ich wähnte, dass ihr guter Eindruck von mir ein Vorteil sein würde, wenn ich meine Karten nur geschickt spielte.
»Ja. Und es tut mir wirklich, wirklich leid. Oman hat nur rumgeflaxt, aber ich hab’s in den falschen Hals bekommen. Und es ist gerade so viel Stress zu Hause und so schwer mit der neuen Schule und so.« Zu meinem Erstaunen gelang mir der reumütige, von Problemen geplagte Jung-Mann recht gut, zumindest ihrem Blick nach zu urteilen, in den sich etwas Mitgefühl stahl.
»Nun gut, dann habe ich mich wohl getäuscht. Aber in Ordnung war euer Verhalten dennoch nicht.« Sie deutete mir mit einem Wink, in die Reihe zurück zu treten, die sich gebildet hatte. Es würde wohl doch nicht so einfach werden, wie ich dachte. Zumindest ließ sie nicht durchblicken, ob sie bei ihrem Einfall, dies alles dem Rektor vorzutragen, bleiben würde.
Der Rest der Rückreise war herzlich unspektakulär, sieht man davon ab, dass ich ständig peinlich bemüht war, die kleine Glocke in meiner Jackentasche still zu halten. Frau Häuser ließ weder Oman, noch mich, wirklich aus den Augen. Wie auch immer sie das schaffte, nachdem sie beschloss, uns jeweils an den Anfang und das Ende des Zugabteils oder der Traube an Schülern zu setzen, die sich jedes Mal in Bewegung setzte, wenn wir umsteigen mussten.
Ich hatte also keine Chance, weder auf dem Friedhof, noch im Dorf oder auf einem der Bahnhöfe das Korpus Delicti zu entsorgen, dass ich mir kameradschaftlicherweise – und vermutlich auch dummerweise – selbst aufgehalst hatte.
Genau genommen traute ich mich noch nicht einmal die kleine Glocke los zu werden, als die Schule und der zugehörige Ausflug für beendet erklärt wurden. Ich wohnte in Sichtweite der Schule und Frau Häuser machte keinerlei Anstalten, in das Schulgebäude hinein zu gehen, bevor ich nicht im Hauseingang verschwunden und Oman in entgegengesetzter Richtung in die nächste Seitenstraße eingebogen war.
Meiner Mutter fiel mein leicht betretener Blick auf beim Abendessen, aber ich traute mich nicht so wirklich im Detail zu erzählen, was vorgefallen war. Ich weiß nicht ob ich mich dafür schämen sollte oder nicht, und konnte ehrlich nicht erahnen, wie sie reagieren würde. Besonders nicht, ob sie dem Rektor – sollte er eingeschalten werden – nicht einfach die Wahrheit über meine Beteiligung sagen würde, sowie woran sich der Streit entfacht hatte. Dann käme nicht nur raus, dass ich die Hälfte der Wahrheit schön für mich behalten hatte, sondern ich würde zudem womöglich noch als Petze gebrandmarkt werden und mehr Ärger haben, als mir lieb war. “Verräter” waren nirgends gerne gesehen, und ich ahnte, dass Anja, Mirko, Thorsten und der Rest unserer kleinen Gruppe zu Oman halten und notfalls lügen würden, was den wahren Hergang betraf. Besonders was den Punkt betraf, wer die Grabglocke gestohlen hatte. Nein, ich mochte mir gar nicht ausmalen, was sie sich dann wohl alles einfallen lassen würden – um zum einen die Schuld von Oman abzulenken und zum anderen Rache zu nehmen an mir, dem Verräter. Besonders stolz bin ich ja nicht, auf all diese Gedanken, aber ich war eben jung. Und in meinem verqueren Kopf war es auch so etwas wie ein ehrbares Opfer, dass ich für Oman brachte. Also erzählte ich nur ausweichend, dass ich mit einem Mitschüler aneinandergeraten war, wegen diesem und jenem eben, besonders da wir uns nie sonderlich gut leiden konnten.
Und dann lag ich auch schon im Bett.
Es war bereits nach zweiundzwanzig Uhr. Nicht besonders spät für meine Verhältnisse, aber auch nicht sonderlich früh. Doch irgendwie fühlte ich mich erschlagen, an diesem Tag. Außerdem hatte ich Sorge, meine Versuche, immer mal an den Garderobenständer und damit meine Jacke zu gelangen, würden irgendwann auffallen. Man konnte den Gang vom Wohnzimmer aus gut einsehen. Genauer genommen sogar von der Küche aus, da Wohnraum und Esszimmer nur durch eine Halbwand voneinander getrennt waren. Etwas, worauf meine Mutter stolz war, war es doch hypermodern, diese »offenen Wohnkonzepte». Damals zumindest hatten wir alle das Gefühl, damit allen anderen um mindestens zehn Jahren voraus zu sein.
Für mich erwies sich dieser Umstand nun jedoch als Nachteil. Nicht nur das. Die Schlafzimmertüre meiner Eltern musste auch unbedingt gegenüber meinem eigenen Zimmer liegen und direkt neben der Garderobe, so dass ich keine Möglichkeit sah, mich dorthin zu schleichen und meine Jacke wenigstens klammheimlich in mein Zimmer zu entführen.
Meine stille Hoffnung war dennoch, dass sich meine Eltern ein Vorbild an mir nehmen und heute früh zu Bett gehen würden. Mit etwas Glück würde mein Stiefvater wieder ganze Nationalparks absägen und seinen Teil zu einer garantiert von allen Wildtieren befreiten Umgebung beitragen, da kein Wolf oder Bär sich freiwillig einer solchen Lärmquelle nähern würde. Mit etwas Pech würden die neuartigen Nasenstrips, die er in letzter Zeit verwendete, aber heute Nacht einmal halten, und den schönen Plan zunichte machen.
Ich starrte an die Decke. Die Holzdielen, die an dieser entlang gelegt worden waren, hatte eine schöne Maserung, wie ich fand. Aber auch etwas Bedrückendes, wenn man so alleine nachts im Halbdunkel im Bett lag. Ganz dunkel wurde es in meinem Zimmer selten. Dafür hätte ich die Jalousien herunterlassen und das goldgelbe Licht der Straßenbeleuchtung aussperren müssen. Meistens vergaß ich dies aber, wenn ich mich ablegte, und war dann zu faul noch einmal aufzustehen.
In dieser Nacht war es jedoch einfach Kalkül.
Dreiundzwanzig Uhr verstrich.
Ich bemühte mich redlich, den Schlafenden zu mimen, keinen Mucks von mir gebend. Aus dem Alter, in dem meine Mutter noch reinkam um nach mir zu sehen, war ich natürlich draußen. Aber noch nicht aus dem, dass sie die Ohren spitzen ließ, ob ich vielleicht wieder meine Zeit am Gameboy verdaddelte, statt mich Schlafen zu legen um fit für die Schule zu sein.
Null Uhr verstrich.
Ich richtete mich auf, peinlich darauf bedacht, so wenig Geräusche wie möglich zu machen – und gleichzeitig so »casual» wie es nur irgendwie ging zu klingen, als wollte ich nur zur Toilette und alles wäre in bester Ordnung, für den Fall, dass ich ertappt würde.
Der Boden war kühl, aber ich verzichtete dennoch auf meine Schlappen. Zu groß erschien mir die Gefahr, ich würde mit den platschenden und schlürfenden Geräuschen, die sie sonst immer verursachten, jemanden aufwecken können.
So schlich ich also barfüßig zu meiner Zimmertür, mein Ohr gegen das glatte Holz pressend, um zu lauschen. Es war still im Flur, was mir verriet, dass der Fernseher aus war. Und wenn der Fernseher aus war, waren meine Eltern sicherlich längst im Bett. Zu meiner Erleichterung blieb es auch still, als ich bemüht leise die Türklinke meiner Zimmertüre hinunter drückte. Mit beiden Händen, angespannt und angestrengt weiter lauschend. Und natürlich sehr langsam, um zu vermeiden, dass meine Türe knarzend aufsprang, wie sie es sonst immer tat.
Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu wundern, dass sie sich heute butterweich öffnen ließ, wo ich doch fast darauf hätte wetten können, dass sie ausgerechnet heute Abend dank ihres verzogenen Rahmens garantiert ein lautes Geräusch machen würde. Aber nein, sie knarzte nur sehr, sehr leise, was mich dazu veranlasste, weiterhin sehr behutsam vorzugehen.
Ein Zentimeter.
Zwei Zentimeter.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, in der mir nichts anderes blieb, als steif zu verharren und in den Gang zu lauschen.
Drei Zentimeter.
Vier Zentimeter.
Es knarzte laut.
Erschrocken hielt ich inne, nur um dann zu fühlen, wie mir eiskalte Schauder den Rücken hinunter jagten. Das Knarzen stammte nicht von meiner Tür, es kam aus dem Flur. Wieder lauschte ich angestrengt, aber weder konnte ich hören, wie die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern geöffnet oder geschlossen wurde, noch, dass ich irgendein Geräusch machen würde.
Ich öffnete meine Tür langsam und vorsichtig ein Stück weiter, so dass ich jetzt in den dunklen Flur spähen konnte. Nichts regte sich, außer meinem Herz, dass mir bis zum Hals klopfte. Mir war schwindelig, als ich die Türe weit genug aufzog, um den Oberkörper hinauslehnen zu können. Aber der Flur war immer noch leer. Emsig suchten meine Augen alles ab, doch entdeckten nichts, außer den Jacken, die gespenstische Schatten warfen, als das Licht meines Zimmers auf sie fiel. Ich hielt im Türstock inne, als ich meine Zimmertür endlich geöffnet hatte, um hinausgelangen zu können. Es war so kalt, dass es mich zu frösteln begann.
Mein Blick haftete mittlerweile gebannt am Schatten einer Jacke, die das Abbild eines kopflosen Mannes an die Wand zauberte. Meiner eigenen Jacke, wie ich erkannte, die mir diesen Sinnesstreich spielte.
Ich weiß nicht was mich davon abhielt, weiter zu gehen. Es war als wären meine Beine zu tonnenschweren Betonklotzen geworden, die ich, egal wie sehr ich mich darum bemühte, nicht bewegen konnte. Oder vielleicht mehr, als wäre ich zu einer Eissäule erstarrt, den Blick starr gerade ausgerichtet. Wie ein Bergsteiger im Himalaya in eine Eisspalte gerutscht, und nun, mit zwei gebrochenen Beinen, unfähig, der eisigen Kälte zu entkommen, die Gliedmaß um Gliedmaß befiel und absterben ließ. Mein Herz pochte nicht nur, es schmerzte, als ich bemerkte, dass mein Atem zu kondensieren begann. Kleine Eiskristallwölkchen formten sich vor meinen Lippen und verflüchtigten sich, für einen Moment den Blick auf die gegenüberliegende Wand vernebelnd. Unwillkürlich fühlte ich mich an den Friedhof erinnert, und den Grund, warum ich meine Jacke so unbedingt erreichen wollte.
Und dann hätte ich fast aufgeschrien.
Die Arme der kopflosen Schattengestalt hatten sich gehoben und offenbarten nun die fehlenden Hände.
Ich weiß nicht, ob sie sich ergeben oder auf mich stürzen wollte, dort an der Wand weit über meinen Kopf aufrichtend, aber ich wollte auch nicht herausfinden, was sie im Schilde führte. Ich stolperte rückwärts, als wäre mir just wieder eingefallen wie ich meine Beine bewegen konnte und knallte meine Zimmertür zu, nur um dann hektisch in mein Bett zu flüchten.
Mir war immer noch eiskalt. Bis zum Kopf unter meiner Decke steckend lauschte ich bebend, ob ich das Knarzen noch einmal hören würde. Oder ob etwas meine Türklinke hinunter drücken würde, um sich Zutritt zu verschaffen, zu meinem Raum.
Es war sicher nur Einbildung gewesen, nicht?
Ein Luftzug, der die Jacken bewegt hatte. Ein vorbeifahrendes Auto, dass ich überhört hatte und dessen Scheinwerfer den Schatten wandern ließen. Es konnte nur Einbildung gewesen sein, nicht?
Ich merkte, wie es mir an den Füßen zog und überlegte fieberhaft. Ich wollte mich nicht bewegen, wollte nicht auf mich aufmerksam machen. Aber die Kälte, die um meine Zehen strich, kam mir fast unerträglich vor. Bebend blickte ich zu meinen Füßen hinunter, um zu sehen, ob sie unter der Decke oder außerhalb dieser waren. Natürlich hatte ich mich komplett zugedeckt, sogar den Kopf, aber sicher war ich mir dessen nicht mehr, so stark wie es mich zu frieren begann.
Dann sah ich es.
Durch einen kleinen Spalt zwischen Decke und Matratzenseite. Etwas warf einen Schatten auf den Boden meines Zimmers und lief langsam an meinem Bett vorbei.
Mein Kopf explodierte.
Hatte ich mein Zimmerfenster gekippt, und vergessen zu schließen? Waren es nur meine Vorhänge, die sich ein Stück bewegten, in der kühlen Abendluft? War dies auch die Erklärung für die Kälte, die meine Füße langsam entlang kroch? Oder fuhr noch ein Auto vorbei und produzierte den Schatten, der mir nur vorher nie aufgefallen war? Oder war doch alles Einbildung?
Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Ja, wagte es noch nicht einmal, tiefer zu atmen. Mir war wieder schwindelig, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Gebannt hafteten meine Augen auf dem kleinen Ausschnitt, der sich mir dank der nicht vollständig aufliegenden Decke bot. Beobachteten fieberhaft den Schatten, und wohin sich dieser wohl bewegen würde. Alles, aber bloß nicht näher zu meinem Bett, betete ich.
Der Schatten tat mir diesen Gefallen nicht. Er trat näher, und näher, und noch näher, bis ich mir fast sicher war, dass er jeden Moment mit unter die Decke schlüpfen würde. Ich wollte schreien, doch war gelähmt vor Angst.
Etwas zog mir die Decke weg.
Nein, nicht etwas: Jemand. Meine Mum stand vor dem Bett und blickte irritiert zu mir herunter. »Lukas? Ist alles in Ordnung?«
»Ja… ich hatte nur einen… Albtraum.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Was sollte ich auch schon sagen? Hey Mum, ich hab’ beim Abendessen vergessen zu erwähnen, dass ich einem Klassenkameraden geholfen habe mit Friedhofsvandalismus und Diebstahl davon zu kommen?
Mein Herz beruhigte sich nur langsam.
»Und du bist dir sicher, dass du nicht einfach zurück ins Bett gesprungen bist als ich reinkam, und vorher an der Konsole gespielt hast?« Ihr prüfender Blick lag auf mir.
»Nein. Nur ein Albtraum.« Ich fühlte mich in Wirklichkeit versucht “ja” zu sagen, denn meine Albtraum-Ausrede wirkte selbst auf mich löchrig. Irgendwie war ich ja auch, so mochte man meinen, schon zu lange aus dem Alter heraus, mich wegen eines Albtraums unter meiner Bettdecke zu verkriechen, als wäre ich immer noch fünf Jahre halt. Aber ich wusste, was sie als nächstes tun würde.
Mum prüfte die Konsole, ihre Hand darauflegend, nachfühlend ob diese warm oder kalt war. »Nun gut, dann versuch mal wieder zu schlafen, die Nacht ist bald um.« Natürlich war die Konsole kalt gewesen, ich war ja nicht an dieser gesessen.
Ich lächelte. Zumindest versuchte ich es. »Geht klar, Mama.«
Lieber hätte ich ihr gesagt, dass sie noch etwas bleiben soll, aber mir fiel selbst kein Grund ein, weswegen ich sie darum hätte bitten können, ohne Aufsehen zu erregen. So blieb mir also nichts anderes, als zuzusehen, wie sie mein Zimmer wieder verließ. Ich fühlte mich sicherer, als sie die Türe leise geschlossen hatte, und ich ihre Schritte durch den Flur hörte, in ihr eigenes Schlafzimmer zurückführend. Doch was sollte ich jetzt tun?
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit hinter den Kopf geschobenen Armen zur Decke starrte. Jegliche Lust auf das Abenteuer, die kleine Grabglocke in einer Nacht- und Nebel-Aktion wieder an mich zu bringen und in ein altes Pausebrotpapier gewickelt im Müll zu verstecken, so dass das Corpus Delicti endlich verschwand, war verflogen. Ich wollte nicht wieder aufstehen, und zu dieser Türe. Nicht wieder in den Flur spähen, der plötzlich eiskalt war, und Schatten an der Wand sehen. Genau genommen taugte es mir ganz gut, einfach nur hier zu liegen, die behagliche Wärme meines Bettes zu genießen und an die Decke zu starren. Es fühlte sich so viel sicherer an, im Bett, zumindest nachdem ich rasch meine Nachttischlampe anschaltete, nachdem meine Mutter das Zimmer verlassen hatte.
Die Nacht verflog so in Windeseile. Allen voran, weil ich von einer bleiernen Müdigkeit befallen, die mir alle Kraft zu rauben schien, schneller wieder einschlief, als ich es selbst jemals angenommen hätte.
Der Morgen bot mir keine Möglichkeit, zu meiner Jacke zu schleichen. Nicht, dass ich sonderlich viel Lust gehabt hätte, mich dieser zu nähern. Ich war mir komplett unsicher, was in der Nacht zuvor geschehen war, und ob ich mir nicht alles nur eingebildet hatte. Diese Erklärung schien für mich am naheliegendsten. Was sollte sonst passiert sein? Nein, es war wohl nur meine rege Fantasie, die mir einen Streich gespielt hatte. Aber dennoch war dieses Gefühl geblieben, als stimme etwas nicht, und wann immer ich meinen Blick zur Jacke richtete, verstärkte sich das Kribbeln in meinem Nacken.
Mein Unbehagen wuchs sogar so weit, dass ich absichtlich trödelte, und behauptete, ich hätte eines meiner Schulbücher vergessen, nur um noch einmal schnell in mein Zimmer stürzen und die kleine Glocke eilends unter mein Kopfkissen zu stecken. Ich weiß, dass dies keine besonders schlaue Idee war, doch fiel mir nichts Besseres ein – denn ich wollte vieles, aber allen voran unter keinen Umständen dieses Ding mit in die Schule schleppen.
Nicht, dass ich die nächtlichen Ereignisse vergessen hätte können. Wann immer ich die Garderoben, die bei uns linksseitig der Klassenzimmertüren aneinander gereiht an der Wand prangten, passierte, kam es wieder. Dieses Bild, des kopflosen Schattenmannes, der seine nichtvorhandenen Finger gierig nach mir streckte. Bis heute ist mir unklar, ob es Glück oder Unglück war, dass meine Lehrer zu viel zu tun hatten, als dass ihnen mein blasses Äußeres und wortkarge teilnahmslose Art an diesem Tag hätte auffallen können. Was wohl passiert wäre, hätte ich einfach davon erzählt? Im günstigsten Fall hätten sie mich beruhigt und das alles als Auswuchs meines schlechten Gewissens gedeutet, das ich zu diesem Zeitpunkt – so muss ich gestehen – noch gar nicht hatte. Im ungünstigsten Fall hätten sie mich in die nächste Nervenheilanstalt einweisen lassen wollen, damit mein Geisteszustand einmal gründlich überprüft würde. Aber ich war nicht verrückt.
Der Tag zog sich dahin, und ich beruhigte mich selbst. Sogar recht erfolgreich, im Sinne der Verleugnung des geschehenen. Zumindest bis ich kurz nach Schulschluss in die Nachmittagssonne heraustrat und den großen Schulhof überquerte, der in der Mitte des u-förmigen Gebäudes stand, das mein tägliches Gefängnis von acht Uhr bis sechzehn Uhr darstellte.
»Ey, Lukas!«
Ich kannte diese Stimme.
»Ich wollte mich bei dir Bedanken. Für du weißt schon was. Anja hat gesehen was du getan hast und so.«
Oman wirkte so gar nicht selbstsicher, im Gegensatz zu sonst. Eher nervös.
»Ja, ist schon gut.« Mir fiel nichts Besseres ein, was ich ihm hätte sagen können.
»Und, wo is‘ sie jetzt?« fragte er salopp, als wäre nichts weiter dabei, doch seine unruhig umher huschenden Augen überführten ihn.
»Wo ist was?« fragte ich dumm zurück, denn es lag auf der Hand. Irgendwie verführte mich aber die kleine, vage Hoffnung, er meinte nicht das, was ich schon insgeheim wusste, gleich Thema sein würde.
»Na du weißt schon, das Glockending.«
Mir fiel auf, dass Omans Hände leicht zitterten, obwohl es an sich nicht kalt genug dafür war.
»Zu Hause.« antwortete ich, bemerkend, dass sich auch in meinem Hals ein Kloß breit machte.
»Okay. Und sonst alles in Ordnung und so?« Oman wirkte linkisch, als er versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. Fast, als wolle er etwas sagen, wusste aber nicht wie. Im Grunde sehr ähnlich zu mir selbst.
»Na ja, war ne‘ schlechte Nacht.« Ich versuchte so normal und lässig wie möglich zu klingen, dem Braten nicht wirklich trauend, der mir hier aufgetischt wurde. Was sollte ich Oman auch erzählen? Hey, naja, die Nacht war beschissen, denn ich glaube mich verfolgt etwas und ich bin mir nicht sicher ob ich den Verstand verliere?
»Ja, meine auch.« Es war eine so simple und vernünftige Antwort, dass ich sie Oman kaum zugetraut hätte. Aber auch er wirkte, als wolle er seine Deckung nicht fallen lassen.
»Un‘ warum?« Mir fiel weder etwas eleganteres, noch netteres ein, also preschte ich einfach vor, getreu dem Motto “Augen zu und durch”.
»Kurz nach halb eins gingen bei uns die Sirenen los.«
»Was für Sirenen?« fragte ich, doch ein wenig überrascht, genauer nach.
»Na, erst klingelte es an der Tür, dann am Telefon und dann gingen die Brandmelder los.« Oman ließ seinen Blick über den Hof schweifen, während er antwortete und mir langsam folgte, da ich mich wieder in Bewegung setzte. Das Thema versetzte mich in Unruhe.
»Warum?« fragte ich wieder genauer nach, doch irgendwie vom Gefühl begleitet, dass ich lieber nicht so viel fragen sollte.
»S‘ weiß ich nich‘.« nuschelte Oman eine Antwort hervor, nach ein paar Sekunden betretener Stille. »S‘ war kein Feuer da.«
Ich schwieg einige Momente. Es war nicht die behagliche Art des Schweigens, die man mit Freunden teilt, wenn man einträchtig beieinandersitzt und das Leben so genießt, wie es gerade ist. Nein, es war jene Art angespannten Schweigens, bei der man sich fragt, wann endlich jemand wieder zu sprechen anfing, um die unbehagliche Stille zu unterbrechen, die sich wie eine unüberbrückbare Kluft immer weiter und weiter verbreitert, und dazu führt, dass man sich selbst bei dem simplen Gedanken irgendetwas zu sagen unsäglich dumm vorkommt.
»Und bei dir?« Oman war es, der die Stille durchbrach.
Ich blies die Backen auf, weiter kurz überlegend, was ich sagen sollte. Es war ein gewaltiger Ruck, den ich mir geben musste um diese Kluft zu überspringen.
»Ich wollte sie im Müll entsorgen, weil ich’s vorm Abendessen nicht mehr geschafft hab‘ sie los zu werden. Und dann sind echt merkwürdige Dinge passiert.« Wir kamen am Tor des Schulhofs an, während ich sprach, und blieben automatisch beide stehen.
»Ja. Mirko hat erzählt, die Bullerei war heut‘ Nacht bei ihnen. Alarmanlage ging los. Dachten sie hätten ’nen Einbrecher im Haus.«
»Und, hatten sie?« Unweigerlich dachte ich bei dieser Frage an das schicke Cabriolet, mit dem Mirko ein paar Wochen zuvor von seinem Vater abgeholt worden war. Ein Wahnsinnsgerät, sah man einmal davon ab, dass für Mirko kaum Platz auf der Rückbank blieb, die eher Zierde denn in irgendeiner Weise komfortabel oder praktisch war. Es gab sicher einiges mehr bei ihm zu holen, also war die Alarmanlage wohl eine recht gute Investition.
»Ne. Polizei hat niemand gefunden.« Oman ließ seinen Blick wieder schweifen, und mir fielen die dunklen Augenringe auf, die seine Züge heute “zierten”.
»Thorsten denkt wir spinnen alle.« fügte er noch hinzu, kurz seine Stiefelspitzen anstarrend.
»Dann hatte Thorsten wohl eine gute Nacht.« entfuhr es mir, ohne dass ich groß nachdachte. Oman grinste kurz und ich ertappte mich verwundert bei dem Gedanken, dass ich ihm eigentlich nicht zutraute, den leichten Anflug von Sarkasmus zu verstehen, der meine Worte begleitete.
»Ja also, die Anja hatte auch keine schlechte Nacht. Aber sie denkt nicht, dass wir alle spinnen. Hat in der Pause Zeugs‘ erzählt und so,» wieder zuckte er salopp die Schultern und bemühte sich genauso wie meine Person darum lässig zu wirken, als ginge es nur um das neueste Playstation-Spiel, »die glaubt an so nen‘ übersinnlichen Quatsch, weil die so ne‘ Oma in Italien hat oder so. Weißt schon, sowas wie der böse Blick und Flüche und Geister und die Ruhe der Toten und so.«
»Okay, ich muss jetzt aber los, meine Mutter wartet.« unterbrach ich Oman. Mir fiel wirklich nichts Besseres ein, in diesem Moment, auch wenn es eine kleine Notlüge war, denn ich wusste, meine Mutter würde nicht warten. Sie kam selten vor acht Uhr heim, eher um neun, je nachdem, wie ihre Schicht so lief. Aber ich wollte dieses Gespräch nun wirklich nicht weiterführen.
Ich bin kein übler Kerl, aber dass ich Oman so rüde abgewürgt hatte war nicht wirklich das, was mich auf meinem Heimweg so beschäftigte.
Nein, es war simpel dieser eine Satz:
Die Ruhe der Toten.
Dieser eine Satz hallte in meinem Kopf wider und wider, wie ein Mantra, dass unaufhörlich von Oman gesprochen wurde.
Ich habe mich mein Leben lang eigentlich als sehr aufgeklärten Menschen gesehen, dessen Paradigmen der Logik den Vorzug gaben, wenn ich auch genug Menschlichkeit und Wärme in mir trug, die Vernunft nicht über alle Aspekte zu stellen. Aber dies war etwas anderes, als sich mit dem Übersinnlichen und seiner möglichen Existenz abzugeben. Für mich war die “Alu-Hut”-Fraktion genauso wenig greifbar wie Geistsabbler, und das Einzige, was ich an beidem sah, war dass die einen Spinner waren die dachten die Regierung würde ihre Hirne mit unsichtbaren Energiestrahlen rösten während die anderen sich einbildeten unsichtbare Energie würde ihnen ermöglichen mit imaginären Wesen zu plauschen, natürlich gegen exorbitante Honorare.
Selbstverständlich ist auch Strom erst einmal eine »unsichtbar» und auch unleugbar eine Form von Energie, die wir nicht so einfach anfassen können. Aber es genügte mir, dass mein Zimmer hell wurde, wenn ich den Lichtschalter betätigte, um zu glauben, dass er existiert. Doch Geister? Spuk? Übersinnliches? Das war etwas völlig anderes. Es gab keine tatsächlichen Beweise. Störgeräusche auf einem Tonbandgerät aufgenommen, die in Frequenzen und Lautstärken überdreht wurden, die unsere Ohren sonst nicht wahrnehmen konnten, waren für mich keine gültigen Beweise. Besonders dann nicht, wenn ich fünf Minuten brauchte, um auch nur ansatzweise heraushören zu können, was einer der selbsternannten Geisterjäger behauptete, »eindeutig» hören zu können – und dafür sogar noch eine Menge Fantasie mitbringen musste. Und Bilder paranormaler Phänomene? Nun, Bilder wurden verfremdet, verfälscht und manipuliert, seit die ersten Kameras eingesetzt wurden. Am Ende war es doch so: Leute glaubten an etwas, wollten beweisen, dass dies existiert, und fanden »wundersamerweise» dann auch noch “Belege” und “Beweise” dafür.
Was für ein Zufall, nicht?
Doch trotz meiner mehr als zögerlichen, ja, eher widerspenstigen Haltung diesem Thema gegenüber ging es mir nicht aus dem Kopf. Die Ruhe der Toten.
Je näher ich meinem zu Hause kam, desto stärker hörte ich diese Worte hallen. Als ich die Treppen zu unserer Wohnungstür hinaufstieg, pochte mein Herz mir wieder bis zum Hals. Ich war mir sicher, dass ich wie ein Trottel wirken musste, so fahrig, wie ich meinen Schlüssel aus meiner Jackentasche herauskramte. Besonders als ich ihn fallen ließ und mich hastig umsah, ob mich auch kein Nachbar dabei beobachtet hatte, dass ich mich zu dumm anstellte, eine Tür aufzusperren.
Aber wenige Sekunden nach dem “Kling” des auf dem steingefliesten Hausgangboden aufprallenden Schlüsselbundes war diese Sorge wie weggewischt. Ich hielt inne, den Schlüssel schon in der Hand, und starrte zu dem Türschlitz. Es brannte Licht, wie immer, denn meine Mutter fürchtete Einbrecher. Aber in dem Licht bewegte sich ein Schatten, den Türschlitz stellenweise verdunkelnd, als ginge jemand langsam auf und ab.
Mein Herz raste, aber ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Mehr noch: Ich sträubte mich gegen die aufkeimende Angst, die mich schon in der vorangegangenen Nacht gelähmt hatte, und zu der unrühmlichen Episode führte, wie ein Kleinkind unter meiner Bettdecke Schutz zu suchen. Fast hätte ich wie ein kleines Mädchen gekreischt, als meine Mutter die Decke wegzog – kein Geist, kein Gespenst, keine ruhelose Seele, einfach nur meine Mutter. Meine Finger zitterten und fühlten sich taub an, aber ich schaffte es, den Schlüssel in das Schlüsselloch zu stecken und ihn herum zu drehen. Bestimmt war mein Stiefvater früher von seiner Tour zurück. Oder meine Mutter hatte eine Pause nach einer Halbschicht eingelegt, um dafür eine zweite Abendschicht übernehmen zu können. Dies war schon vereinzelt vorgekommen. Vornehmlich dann, wenn ich fest damit gerechnet hatte, den Nachmittag und Abend alleine und für mich zu haben.
Die Tür sprang auf und ich hielt inne.
Der Gang war hell erleuchtet, so wie ich es erwartet hatte. Doch er war leer und es war still. Ich trat langsam ein und ließ meinen Blick schweifen. Da waren keine gruseligen Schatten an der Wand über und hinter der Garderobe, doch ich registrierte, dass die Jacken meiner Eltern fehlten, sowie ihre Schuhe. Auch die Handtasche meiner Mutter fehlte. Sie nahm sie immer mit zur Arbeit.
Mir stockte der Atem kurz und ich musste mich überwinden, den Blick weiter schweifen zu lassen, fast damit rechnend, dass irgendetwas Furchtbares in dem dämmerlichtigem Wohnraum auf mich lauerte. Aber ich konnte in dem halbdunklen Eingangsbereich, der dank des Ganglichtes noch spärlich beleuchtet wurde, nichts erkennen – und auch nichts dahinter, wo weniger Licht hingelangte, an solch trüben Tagen. Hart schluckend gab ich mir einen Ruck und setzte mich in Bewegung, nur damit mich der Mut knapp vor dem Wohnzimmereingang wieder verließ. Statt weiter zu laufen patschte ich die Hand um die Ecke, mich weit vorbeugend, um den Lichtschalter umzulegen. Das Wohnzimmer erstrahlte, friedlich und unberührt, als könne gar nicht schlimmes hier geschehen. Ich nahm meinen Mut zusammen und setzte mich in Bewegung, ein paar Schritte in den Raum hineinwagend, auch wenn ich noch sehr angespannt war. Ich musste nicht in die Küche, um die Deckenlampe dort einzuschalten. Es genügte, sich über die Halbwand, die Wohnzimmer und Küche abtrennten, zu beugen, und den Schalter umzulegen, um auch dieses Areal zu beleuchten. Aber das mulmige Gefühl wollte nicht weichen, obwohl sich nichts Spektakuläres oder Ungewöhnliches in der Wohnung zeigte. Es war unsere Küche. Einfach, und nicht komplett ordentlich da ich das Geschirr vom Frühstück noch nicht in die Spülmaschine eingeräumt hatte, doch so gemütlich, wie ich es eben gewohnt war. Hätte mich nur nicht dieses Gefühl verfolgt, das etwas nicht stimmte.
Unwohl sah ich mich wieder um ohne etwas zu entdecken und beschloss, dass meine gewohnte Routine wohl das Beste sei, um dieses Gefühl los zu werden. Ich wollte mich nicht verrückt machen lassen. Im Grunde war ja auch nichts Weltbewegendes passiert. Ein kleiner Streich, der anderen Jungen, der sich sicher aus der Welt schaffen lassen würde. Irgendwie jedenfalls bestimmt.
Der Rucksack raschelte auf meinem Rücken, als ich mich wieder Richtung Flur aufmachte, jedweden Blick auf die Garderobe und die Wohnungstür vermeidend. Doch gerade als ich die Klinke meiner Zimmertür runter drücken wollte, hielt mich der Lichtschein, der unter der Tür prangte, davon ab. Der Schlitz zwischen meiner Zimmertür und dem Boden betrug nur einen halben Zentimeter, und war damit beträchtlich geringer als jener der Wohnungstür zum Boden des Flurs. Doch ich war mir sicher: In meinem Zimmer brannte Licht! Ich schluckte abermals hart. Hatte ich vergessen, das Licht auszumachen, als ich meine Schulsachen morgens holte?
Das Gefühl des Unwohlseins nahm zu. Ich fühlte mich regelrecht krank, als ich auf den schmalen Lichtschlitz starrte. Mir war schwindelig und das flaue Gefühl in meinem Magen war zu echter Übelkeit herangewachsen, so dass ich mich fragte, ob ich mir den Geruch fauler Eier nur einbildete, oder jener aus meinen Eingeweiden hinaufstieg, die sich schmerzhaft zusammenkrampften. Was sollte ich nur tun?
Ich zog die Hand von der Klinke und wich schlagartig zurück, bevor ich weiter über diese Frage sinnieren konnte. Das feine, helle Geläut einer kleinen Glocke drang aus meinem Zimmer und raubte mir fast den Verstand. Das Gefühl des Krankseins wechselte sich mit einer Art panischer Euphorie ab, während das Blut in meinen Ohren rauschte. Mein Körper spannte sich an, ohne mein eigenes Zutun, und lauerte nur darauf, dass sich etwas ereignete, was mich entweder zum Angriff oder zur Flucht verleiten würde. Ich wusste es selbst nicht genau, gebannt auf die Tür starrend, festgefroren in der Furcht, dass jede Bewegung meinerseits die Gefahr heraufbeschwören würde, die jenseits dieser Tür lauerte. Als wäre ich ein Rehkitz, das nur möglichst still im Feld liegen bleiben müsste, um dem umherstreifenden Jäger zu entgehen, der nach Blut und frischem Fleisch lechzte. Aber die Wahrheit war doch, dass hinter dieser Tür kein Jäger lauerte; kein Wolf, kein Bär, kein Luchs. Nein, es war viel eher der Mähdrescher, der sich nicht darum kümmerte, ob das Rehkitz dort im Gras saß und sich unerbittlich durch die Landschaft fraß, Halm um Halm knapp über dem Boden kappend, und somit ein Leben beendend, das Monate gebraucht hatte zu erblühen. Würde es mir auch so gehen, wie den Kitzen, die den Dreschern nicht entkamen, weil sie still sitzen blieben, ihrem natürlichen Instinkt folgend? Kaum, dass ich mich der Zielgeraden des “Erwachsenwerdens” näherte auf Höhe meiner Fußknöchel abgeschnitten? Umfallend, als wäre meine Existenz nie von Bedeutung gewesen und hineingeworfen in eine Millionenschaft anderer Halme, von denen ich kaum zu unterscheiden war?
Ich spürte Schweiß meine Schläfe hinunter rinnen. Der Geschmack des salzigen Tropfens, der meine Lippen erreichte, riss mich aus meiner Erstarrung. Geistesgegenwärtig stürzte ich zur Wohnungstüre und dann hinaus in den Flur, dessen kalte, stehende Luft mir ins Gesicht schlug, wie eine Wand, durch die ich dringen musste. Drei Mal hallte das Geräusch meiner schwer am Boden aufkommenden Schuhe in meinem Kopf wider, dann hatte ich die Haustüre in wilder Flucht hinter mir gelassen.
Aber die Straße war nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Nicht nur, dass sie still und menschenleer dalag, als wäre sie schon vor Jahrzehnten verlassen worden. Nein, aus den Häusergassen krabbelte die Bestie hervor, die mir schon auf dem Friedhof so zugesetzt hatte. Nebel waberte über Mülltonnen und Zäune hinweg auf die Straße, als würde ein übervoller Kelch in diese hinein geleert werden, die Sicht auf die Fassaden der Häuser allmählich verschluckend. Ich schnappte nach Luft. Das Geräusch meiner Schritte hallte unnatürlich laut in dem dusig-dämmrigen Raum wider, der mich – nun scheinbar endlos – umhüllte.
Desorientiert hielt ich inne. Meine Sicht betrug kaum noch mehr als zwei Meter, den Rest verschluckte der milchig-graue Moloch, der mich einschloss. Bebend überlegte ich, wohin ich nun sollte. Mir war es mittlerweile egal, was meine Nachbarn von mir halten würden. Hätte ich auch nur ein einziges Haus sehen können, ich wäre schnurstracks darauf zu gerannt, hätte gegen die Klingelschalter und Türen gehämmert und aus Leibeskräften gebrüllt. Aber ich sah keines der Wohngebäude mehr, nur den Boden zu meinen Füßen, einer Straße, die scheinbar endlos breit war.
Verzweifelt versuchte ich noch etwas Anderes in meiner Umgebung zu erkennen. Etwas das mir helfen würde die Orientierung wieder zu finden. Einen Hydranten vielleicht, oder einen Zeitungsständer, oder auch nur eines der verdammten geparkten Autos, an denen ich auf meinem Heimweg vorbeikam, als die Schulglocke das Unterrichtsende endlich verkündet hatte.
Die Schule!
Wieder spürte ich einen Schweißtropfen über mein Gesicht rinnen. Er fühlte sich kalt an, auf meiner heißen Haut. Das Adrenalin pumpte immer noch durch meine Venen und fand kein Ventil, denn ich drehte mich nur im Kreis. Die Schule!
Ich versuchte zu rekapitulieren, aus welcher Richtung ich gekommen war, und ob sie demnach linker- oder rechterhand liegen musste. Ich wusste, dass viele meiner Lehrer nach Schulschluss noch etwas länger blieben. Ganz zu schweigen von dem alten Hausmeisterpaar, dass in dem großen u-förmigen Schulkomplex wohnte. Mir war wieder schlecht, doch diesmal vor Anspannung und nackter Angst, als ich mich endlich in Bewegung setzte. Meine Schritte hallten, immer schneller werdend, in meiner unwirklichen Umgebung wider, doch ich hatte nicht das Gefühl, von der Stelle zu kommen. Das Einzige, was mir an Orientierung geblieben war, war die Straßenmarkierung. Ein langer, durchgehender Streifen, der schon vor Jahren hätte neu gezogen gehört und immer wieder Löcher und ausgefranste Enden aufwies. Aber allmählich ging der Lochfraß von Jahrzehnten der Überquerung durch die Vehikel der Eltern, Lehrer und des öffentlichen Nahverkehrs in echte Unterbrechungen über. Die nunmehr gestrichelte Linie verriet mir, dass ich mich tatsächlich bewegte, auch wenn ich nicht wusste wohin. Ich wusste nur eines: Irgendetwas war hier, beobachtete mich, wartete darauf, dass ich Schwäche zeigte und langsamer wurde.
Mein Atem war mittlerweile zu einem tiefen Keuchen verkommen und die kalte Luft brannte in meiner Brust. Ich weiß nicht wie lang ich lief, nur noch, dass ich dachte, ich könne bald keinen Schritt mehr vor mich tun, und mich anspornte, jeden der weißen Striche die vor meinen Füßen auf dem Boden lagen einzeln zu überwinden. Den schaffst du noch, und den schaffst du auch noch.
Aber irgendwann genügte auch dies nicht mehr, meine wackeligen Knie zu überreden, noch einmal den Kraftakt eines Schrittes zu vollbringen. Meine Lungen kamen einfach nicht mehr damit nach, genügend Luft einzuziehen, um meine sich allmählich schmerzhaft verkrampfenden Beinmuskeln mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen, um der einsetzenden Übersäuerung entgegen zu wirken.
Ich blieb stehen und atmete weiterhin schwer. Das Pochen meines Herzens und mein eigenes Keuchen waren das Einzige, was ich für einen Moment vernehmen konnte. Erst als sich mein Atem etwas beruhigte, drang ein Rascheln an mein Ohr. Es klang, als würde der Wind durch die abgestorbenen Blätter alter Baumwipfel streichen, diese zum Säuseln bringend, bevor er sie abriss und so am Ende nur karge, leblos wirkende Baumgerippe zurückließ. Das vereinzelte, klägliche Krächzen einer Krähe ließ mich aufhorchen, zu dem sich ein unregelmäßiges, mehrstimmiges Zirpen gesellte, das aber noch weiter entfernt schien. Ich fröstelte. Wie lang war ich gelaufen? Und wohin war ich nun geraten?
Am liebsten hätte ich mich hingesetzt, und geheult. Aber in diesem Nebel schien nichts, dass mich würde hören und zur Rettung eilen können. Viel wahrscheinlicher wirkte, dass dort draußen etwas zuhören könnte, das alles andere als mir zu helfen im Sinn hatte. Ich schauderte und setzte mich, ohne es wirklich zu bemerken, in Richtung der Geräusche in Bewegung, einem vagen Impuls der Hoffnung folgend. Alles war besser, als weiter so vollkommen allein zu sein. Besser, als sich wie das letzte lebendige Wesen auf dieser großen weiten Welt zu fühlen. Selbst eine Krähe oder auch nur eine Hand voll Insekten.
Das Krächzen wurde lauter und ich hörte Flügelschlagen in der Nähe. Es raschelte und knackte unter meinen Füßen. Die Straße hatte wohl doch ein Ende, und ich hatte es gefunden, denn meine Schritte führten mich nun über Waldboden. Äste brachen unter dem Gewicht meiner Stiefel, doch dies hielt mich nicht davon ab, weiter zu Laufen. Schwarze Baumsilhouetten schälten ihre skelettartigen Umrisse aus dem Nebel, die tot wirkenden dunklen Äste wie Arme in den Himmel reckend, als würden sie um Hilfe flehen. Ich schauderte unwillkürlich, als ich zwischen ihnen hindurchschritt, und ihre stille Klage mit meiner Anwesenheit unterbrach. Ein Eindringling, der hier nichts zu suchen hatte und einen Fremdkörper darstellte, in einer Welt, die nicht seine war. Ich wollte ihnen ja ihre Ruhe lassen und wollte weg von hier. Raus aus dem Nebel und dieser unwirklichen Fantasterei, die nie und nimmer Wirklichkeit sein konnte. Doch wie sollte ich entkommen?
Das klägliche Lautspiel der Krähe schien nun ferner zu rücken, statt näher zu kommen, egal wohin ich meine Schritte auch lenkte. Dafür wurde der Boden lichter und das an den Nerven zehrende Geräusch knackender Äste, dass mich zunehmend anbrechende Knochen erinnerte, wurde leiser, ehe es ganz verschwand. Der Pfad, auf dem ich nun ging, kam mir gleichermaßen vertraut wie fremd vor. Dennoch war es besser als orientierungslos durch den Wald zu stolpern und alle zwei Minuten hinab zu blicken, um sicher zu gehen, dass man noch auf Ästen, Rinde und Laub wandelte, statt auf Gebeinen vorwärts zu marschieren.
Mein Atem stockte, als ich den Blick wieder hob, nachdem ich mir ein weiteres Mal fast gewiss war, ich wäre just gerade zuvor auf einen Knochen und keinen jener dürren knackenden Baumfortsätze gestiegen, die mir das vorwärtskommen gerade so erschwerten. Ich sah einen Teil einer Saalkirche, die mir seltsam vertraut schien, aus dem Nebel hervorbrechen. Dunkel und unheimlich schälte sie sich aus dem milchig-trüben Morast, der von unsichtbarer Hand bewegt gemächlich um sie herum waberte und fast wie ein unheiliges, aufgewühltes Meer über dem Kirchenschiff zusammenschlug, als würden sich seine Wellen an dem heiligen Gebäude brechen. Nur der viereckige Turm der Gebetsstätte ragte ein paar Meter weiter auf und überdeutlich in die verschwommene Dunkelheit hinein, als könne der Nebel die Kirchenglocken einfach nicht erreichen, die dort schwer und unbewegt auf ihren Einsatz warten. Der Wind rauschte einen Moment lauter durch die Blätter und verwehte den unaufhaltsam gefräßigen Moloch, der sich meiner Umgebung bemächtigt hatte, mir einen kurzen Blick auf die Seite des Kirchenschiffes gewährend. Ich kannte diese Buntglasfenster!
Wie als wäre ich noch im Schritt zu Eis gefroren hielt ich inne und rang keuchend nach Luft.
Wenn dies alte Gemäuer vor mir die Kirche meines Schulausfluges war, bedeutete dies, dass meine so seltsam hanebüchen anmutende Furcht, Knochen zu meinen Füßen zu erblicken, wenn es einmal wieder laut unter meinen Stiefeln geknackt hatte, wohl gar nicht so weit hergeholt war. Denn es bedeutete, dass ich mich selbst gerade wieder auf dem Friedhof befand, auf dem mein unrühmlicher Streit mit Oman seinen traurigen Höhepunkt erreichte.
Ich schauderte und rang mit mir, bebend verharrend. Ein Teil von mir wusste, dass es nicht anders sein konnte, doch der andere Teil weigerte sich, den Blick vom Kirchturm zu nehmen, der wie ein Mahnmal im eingetrübten Dämmerlicht weiter stumm harrend emporragte. Aber ich musste doch wissen, wo ich mich nun befand. Musste dessen sicher sein, um meine Orientierung zurück zu erlangen.
Gänsehaut kroch über meine Arme und Beine, als ich versuchte mich zu besinnen und wenigstens einen klaren Gedanken fassen zu können. Wie um alles in der Welt war ich nur hierher geraten? Mein Atem kondensierte und erzeugte ein kleines Wölkchen, das ich meiner eigenen Verwunderung zum Trotz bemerkte, obwohl sich der Nebel mittlerweile sicher in Scheiben schneiden ließ. Es war schlagartig noch kälter geworden. Fröstelnd zog ich meine Jacke enger um mich, und rang mit mir selbst. Es war ein stiller Kampf, den ich dort ausfocht. Alles in mir sträubte sich dagegen, den Blick vom Kirchturm abzuwenden. Alles außer der Vernunft, die mir unaufhörlich sagte, ich müsse herausfinden wo ich mich befand, um zu wissen, wie ich wieder heimkäme. Oder zumindest in Sicherheit.
Meine Atemzüge wurden wieder schwer. Je länger ich mich hier befand, umso müder und leerer fühlte ich mich. Wohl wegen des langen Weges, versuchte ich mir einzureden, obwohl ich mir sicher war, nicht weit genug gerannt zu sein, als dass ich überhaupt hätte hier sein können. Doch wo war »hier» nun genau? Wieder sagte mir meine Vernunft, dass ich dies nicht herausfinden würde, wenn ich nicht feststellen könnte, wo genau ich bin.
Ich gab mir einen Ruck und senkte den Blick.
»Lauf«.
Es war nur ein Art Flüstern, aus dem hintersten Winkel meiner selbst. Ich hatte den Blick wieder gehoben und meine Augen wanderten über den alten, verwitterten Grabstein, der dort, kaum zwei Meter vor mir, wie aus dem Nichts aufzutauchen schien. Eingebettet im Antlitz dunkler Gerippe alter kahler Bäume und umrundet von genauso stillen, wachsamen steinernen Wegbegleitern in Form von weiteren verzierten Grabsteinen und Kreuzen, die den Friedhof bevölkerten, hatte er sogar etwas trostspendendes an sich. Das was mich aus der Fassung brachte, war nicht der Grabstein selbst. Nein, es war die kleine Aufhängung an seiner Seite, an der eine kleine bronzene Glocke hing, und von der eine Schnur geradewegs in das Erdreich hinab führte. Ich kannte diese Glocke.
»Lauf«.
Es war wieder nur eine Art Flüstern, doch mir erschien es gleichsam wie ein Befehl monumentalen Ausmaßes: »Lauf!«.
Ich wendete mich von dem Grab mit seiner verfluchten Glocke ab und fing an zu rennen. Das Gefühl, das etwas hinter mir her war, wurde unerträglich, als ich das Glöchenläuten wieder vernahm, dass immer penetranter und lauter werdend die Verfolgung aufgenommen zu haben schien. Lichtblitze tanzten vor meinen Augen, und ich merkte, wie mir die Sinne schwinden. Es wurde immer schwerer, Luft zu holen, und meine Beine schmerzten so sehr, dass ich mir nicht einmal mehr sicher war, ob ich mich noch bewegte.
»Lukas? Ey, Lukas!« Jemand rüttelte erst zaghaft, dann stärker werdend, an meiner Schulter.
Nur langsam und träge lüftete sich der Schleier meiner Gedanken, während das unheilvolle Läuten leiser wurde, um dann ganz zu verklingen.
»L-u-k-a-s? Man, sag mal was!« Wieder wurde ich gerüttelt, konnte aber nichts tun, außer bibbernd vor Kälte dazustehen und keuchend Luft einzuziehen. Ich fühlte mich, als wäre ich drei Marathons nacheinander gelaufen, und meine Seite stach schmerzhaft genug, dass mir wieder ein wenig schwummrig wurde. Aber ich wollte nicht zurück in die Dunkelheit. Ja, nicht einmal mehr die Augen zum Blinzeln schließen, jetzt, da wieder Licht an diese drang. Die Straße, in der ich mich wiederfand, hatte wieder rechts und links eine Begrenzung, Gehwege und war mit Häusern gesäumt, so wie ich es sich gehörte. Die Nachmittagssonne stand zwar schon niedriger, aber es war ein Lichtfest, verglich man es mit den letzten Stunden – oder Minuten? – in denen ich “unterwegs” war.
»Man, SAG ETWAS!« Das nunmehr energische Rütteln riss mich aus meiner Trance und ich riss den Blick zu der noch etwas unklar definierten Gestalt herum, die sich aber immer stärker aus dem vormals vagen Abbild ihrer selbst herausschälte. Es war Oman, der immer hektischer werdend an mir herumriss. »Hast du den Arsch offen? Der Typ hätte dich fast umgefahren!»
»Was? Wer?« entgegnete ich murmelnd, unsicher, ob ich laut oder leise sprach, denn ich fühlte mich mit all diesen “neuen” Sinneseindrücken völlig überfordert.
»Na der Golf! Ich hab’ dich gerade noch von der Straße ziehen können, du Idiot!« Kurz hielt Oman inne und starrte mir in meine – vermutlich – geweiteten Pupillen. »Ey, hast du was eingeworfen?«
Ich fühlte mich immer noch unendlich träge, bekam es aber hin, den Kopf zu schütteln. Gleichwohl sich dieser noch anfühlte, als hätte ein bösartiges kleines Männchen eine Stippvisite hingelegt, um ihn in einem unachtsamen Moment mit einem großen Wattebausch zu vertauschen.
»Eh, was machst du denn eigentlich hier?« nuschelte ich weiter fröstelnd, und zog meine Jacke wieder enger um mich.
»Alter, das ist mein Haus! Ich wohn’ da!«
»Achso.« Unter anderen Umständen hätte ich Omans entgeisterten, auf mir ruhenden Blick vermutlich für amüsant befunden, aber in diesem Moment war mir alles andere als zum Lachen zumute.
»Willst du vielleicht mit reinkommen und dich aufwärmen?«
Ich musste wohl still genickt haben, ohne es wirklich mitzubekommen. Mir fiel auf, dass das Haus ziemlich heruntergekommen war, zu dem mich Oman führte. Dies ließ sich an den langgezogenen Rissen und abgeplatzten Fliesen des Hausflurs auch unschwer ablesen, aber ich sagte nichts. Ich war froh, als sich die Wohnungstür öffnete, und Geschnatter herüberdrang, auch wenn ich es nicht verstand. Der Lärm heißblütig diskutierender Stimmen, gepaart mit dem würzigen Geruch deftigen Essens, der in der Luft lag, verschaffte meinen angespannten Nerven eine wohltuende Pause, auch wenn es Oman etwa peinlich zu sein schien. Seine zwei kleineren Schwestern verfolgten uns durch die Wohnung und warfen neugierige Blicke auf mich, miteinander auf – so vermutete ich es – türkisch sprechend, in einer Geschwindigkeit, dass meine vereinzelten Kenntnisse dieser Sprache nicht einmal genügten, mögliche Schimpfwörter heraus zu filtern. Ich lächelte vage, so glaube ich es zumindest, als Omans Mutter auftauchte und die quirligen Mädchen in den Wohnraum zurückscheuchte, der ihnen auch gleichzeitig als Spielzimmer diente, mir dabei auch noch kurz zulächelnd. Die Wohnung war kaum größer als unsere, doch lebten hier mindestens fünf statt wie bei uns drei Leute. Ein seltsames Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Der Haushalt war ordentlich, wenn die Möbel auch etwas älter wirkten, als bei mir zu Hause. Aber nach »Luxus» sah er ganz bestimmt nicht aus. Dafür besaß es eine behagliche Wärme und Gemütlichkeit, die vielleicht gerade dadurch, dass hier nicht die hochwertigsten Designermöbel zu finden waren und der eine oder andere kleine Schönheitsmakel der Wohnung nur notdürftig kaschiert wurde, hervortrat. Ich für meinen Teil stellte fest, dass mir Geschwister und diese herzliche Lebendigkeit lieber gewesen wären als mein übergroßes und meist einsam verwaistes Einzelzimmer, als mich Oman in sein kleines Reich führte. Der Raum war kaum dreieinhalb Quadratmeter groß, so dass sich die Leiter zu seinem Hochbett direkt neben dem Eingang des fast schlauchförmigen Zimmerchens befand. »Hinter» der Leiter war unter dem Hochbett geschickterweise ein Regal eingebaut mit tiefen Fächern um Omans Habseligkeiten unterzubringen, abgesehen von seiner Kleidung, die in einem Extraschrank untergebracht war, der gleichsam als Stütze für das Hochbett fungierte. Eine Tischplatte war auch noch vorzufinden, die als Schreibtisch herhielt, einem durchaus damals schon in die Jahre gekommenen PC zusätzlich auch noch als Standort dienend.
Fast schämte ich mich ein wenig für meine voreingenommene Vorstellung von Omans zuhause. Ich hätte mich eigentlich zu Wetten getraut, dass, so wie sein Vater einen dicken Mercedes Benz fährt, auch Oman einen der schicksten und neuesten Rechner haben würde und in einer Luxusbude hauste, wo man nicht viel über Geld sprach.
»Tja, is’ nicht besonders groß, nicht?« merkte Oman an, sich auf den Stuhl fallen lassend, dessen abgewetzte Sitzfläche schon bessere Tage gesehen hatte. Mit einer Hand holte er mir einen der beiden unter der Tischplatte verstauten, einfachen Hocker hervor, mir dann bedeutend, mich dazu zu setzen.
»Ich find es gemütlich.« entgegnete ich.
»Ist auch besser als mit meinen Schwestern in einem Zimmer schlafen zu müssen. Meine Eltern haben schon mal nach was Größerem geguckt, aber wenn du den Nachnamen Özcan hast, will dich keiner mehr so wirklich bei sich wohnen haben.«
Er zuckte die Schultern, als wäre nicht viel dabei, aber mir war unwohl. Ich hatte mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht, wie viel ein Nachname ausmachen konnte, im Positiven sowie Negativen. Dabei hatte der Typ von der Berufsberatung, der uns vor einigen Wochen in der Schule besucht hatte, es sogar noch angedeutet. Mir dämmerte langsam, warum ein paar meiner Klassenkameraden recht verkniffen geguckt oder genickt hatten, während mir nicht so ganz klar war, was er versucht hatte möglichst politisch korrekt vage anzudeuten.
»Dein Vater hat ein cooles Auto.« merkte ich etwas linkisch an, da mir nichts Besseres einfiel, gleichwohl Autos nicht gerade zu meinen favorisierten Themen oder Interessengebieten zählten.
»Ja, hat lang dafür geschuftet und ist mächtig stolz darauf. Fast abbezahlt! Viel schneller als bei jedem seiner Arbeitskollegen. Damit er ganz ihm gehört.« Oman klang tatsächlich etwas zufriedener, was mich fast eine Spur verwunderte. Ich hatte auch nie wirklich darüber nachgedacht, dass Oman vielleicht aus einem Haus stammen könnte, in dem sehr viel Wert auf Leistung gelegt wurde und einen »anständigen» Beruf. Seine Noten ließen es nicht unbedingt vermuten. Unweigerlich schluckte ich leise, mich daran erinnernd, wie sein Vater wutschnaubend die Schule betreten hatte, und ihn zur Sau machte, für den Verweis den er kassiert hatte. “Wenn du schon die Schule nicht hinkriegst, wird nie etwas Vernünftiges aus dir werden!” bekam eine ganz andere Dimension für mich, als ich mich wieder in dem kleinen Zimmerchen umblickte.
»Und was hast du da draußen gemacht?« fragte Oman, seinen Blick wieder auf mir ruhen lassend, nach einigen Sekunden des Schweigens.
Ich betrachtete ihn kurz, ehe ich den Blick senkte und es schaffte, mir einen Ruck zu geben. Langsam und stockend berichtete ich meinem Schulkameraden von den Ereignissen, die mich auf eine mir unerfindliche Weise bis in seine Straße geführt hatten, und – wie mir jetzt auffiel – fast direkt in seine Arme. Man hätte annehmen müssen, das Erzählen des Geschehenen würde mich erleichtern, doch in Wahrheit fühlte ich mich schlechter und schlechter, während ich rekapitulierte, wie ich durch nebelverhangene Straßen stolperte und rannte um dann irgendwie auf dem Friedhof anzukommen, auf dem wir uns geprügelt hatten, mit dem bohrenden Gefühl immerwährender Gefahr im Nacken, das erst jetzt langsam seine kalten, grausamen Klauen von mir nahm.
Oman lauschte mir still, nervös mit den Daumen auf seiner Tischplatte trommelnd, nur um hier und da aufzuhören, wenn es ihm selbst auffiel und wieder anzufangen, sobald er sich in meiner Geschichte zu sehr verlor. Es fiel mir schwer, seine versteinerten Züge zu interpretieren, und zum Ende hin fühlte ich das unbehagliche Gefühl leise aufkeimender Angst. Würde er mir glauben? Oder würde er es für Humbug halten und am nächsten Morgen allen erzählen, dass ich der größte Spinner der Schule bin?
»Und du bist dir sicher, dass du den Scheiss nicht einfach zusammengeträumt hast?« fragte er zum Ende hin leise.
»Bin ich. Denn wie wäre ich sonst vor deine Haustür gekommen?« antwortete ich genauso gedämpft.
Wir schwiegen wieder etwas. Es war ein seltsames Schweigen. Einerseits fast behaglich, als befände man sich in der Nähe eines Freundes, mit dem man die Seele auch einmal baumeln lassen konnte und nicht immer Reden musste. Andererseits unbehaglich, ob des Themas, und der Ungewissheit, was der andere davon hielt – und von einem selbst, am Ende des Tages. Nie hätte ich gedacht, dass mir Omans Meinung einmal wichtig werden könnte. Aber hier und jetzt fühlte ich mich davon abhängig, dass mir irgendjemand auf dieser Welt glauben und nicht für verrückt erklären würde. Vielleicht, weil ich mir selbst nicht sicher war, ob ich nicht langsam aber allmählich den Verstand verlor. Vielleicht weil es immer mal vorkam, dass sich eine Geisteskrankheit erst in den Jugendjahren deutlich zeigte, und vorher nur ein kleines, störendes Beiwerk war, dessen tapsige kleine Absonderlichkeiten von Eltern und Verwandten beiseite diskutiert wurden, als Ausdruck “kindlicher Kreativität”. Aber war ich überhaupt kreativ genug, mir eine so irrwitzige Geschichte auszudenken?
Ich hatte nie das Gefühl, dass ein kleiner hässlicher Gnom in meinem Kopf zur Untermiete saß, und darauf wartete, meinen Verstand auszutricksen und mich zu aberwitzigen Aktionen zu verleiten, wie fast von einem Auto umgefahren zu werden. Gleichwohl ich manchmal das Gefühl hatte, ein Teufelchen säße hier und da auf meiner Schulter und wollte mich dazu verführen den einfacheren – und meist nicht gerade lauteren – Weg zu gehen. Einmal Spicken bei der Schularbeit hier, einmal Schwindeln über eine verpatzte Note da. Kleinigkeiten, die das Gewissen herausforderten. Aber ich hatte immer gedacht, dass mein Gewissen die bessere Karte hatte, als das kleine Teufelchen, dass mir dazu riet, den faktisch einfacheren Pfad einzuschlagen. Eben weil zu dem Teufelchen auf der Schulter das Engelchen kam, dass mir ein jedes Mal klar machte, dass neben der Gefahr bei Lügen und Betrügereien erwischt zu werden, auch die reumütige Erkenntnis der falschen Handlung auf diesem Pfad lauerte und den Preis dieses “einfacheren Weges” in die Höhe schrauben konnte. Nein, ich hatte weder das Gefühl verrückt zu sein, noch je das Gefühl gehabt, ich wäre böse, oder hätte es verdient, dass mir Böses folgt.
Die unsichtbare Waage, auf der unser Schweigen gemessen wurde, neigte sich langsam aber unaufhörlich mehr in Richtung “unangenehm”, während ich dasaß, und versuchte, aus meinen eigenen wirren Gedanken schlau zu werden. Erst Omans Räuspern ließ mich wieder aufblicken und aus dem Dickicht sich langsam verdichtender Zweifel an meiner eigenen Person erneut emporsteigen, ein wenig Hoffnung schöpfend, als ich sein schiefes Grinsen sah. Wer sich genauso dämlich vorkam, wie ich, konnte wohl kaum der Meinung sein, dass an allem was ich erzählte nichts dran war – sonst hätte man ja keinen Grund, sich so unsäglich dämlich vorzukommen, bei dem Gedanken an Spuk, Flüche, Rachegeister und unsichtbaren Mächten.
»Willst du vielleicht Morgen nach der Schule mit uns mitkommen?« fragte mich Oman, und ich nickte fast zu schnell, doch er fuhr fort, ehe ich antworten konnte: »Wir treffen uns mit Anja. Sie hat so ein Ouija-Brett besorgt. Du weißt schon, die Dinger wo man angeblich mit Geistern reden kann.«
»Wofür?« Meine Gedanken rasten.
»Anja sagt, wir haben die Ruhe der Toten gestört, als wir die Glocke mitgenommen haben.« Mir fiel wieder Omans unruhiger, müder Blick auf, wie schon einige Stunden zuvor in der Schule.
»Aber ich war doch gar nicht bei euch dabei!« entfuhr es mir unwillkürlich, teils von Ungläubigkeit, teils von Wut beseelt. Ich hatte doch gar nichts gemacht, außer ihm aus der Patsche geholfen!
»Da kenn ich mich nicht so gut aus wie Anja.« Oman zuckte die Schultern, was mich noch wütender werden ließ. Wie ein großer roter Ballon in meinem Inneren, der sich mehr und mehr aufbläht, beseelt von einem kochend heißen Gas, das in seine Eingeweide strömte und seine Außenhaut fast platzen ließ, wenn es mir nicht gelang, den Zustrom zu unterbrechen und ihn gut festzuhalten. Wie konnte er da nur so ruhig sitzen und mit den Schultern zucken, als ginge es ihn nichts an? Er war doch schuld!
»Ist was?«
Ich hielt inne bei seiner Frage. Erst jetzt bemerkte ich, wie sich meine Hände zu Fäusten geballt hatten, und dass ich mich erhoben hatte. Mein Atem stockte. Was auch immer mich so wütend auf Oman gemacht hatte, verflog, so schnell, wie es gekommen war. Als hätte jemand die Luft aus dem roten Ballon gelassen, der noch vor Sekunden drohte mein ganzes Handeln und Reden auszufüllen.
»Ne, ne, mir ist nur noch etwas kalt.« erwiderte ich fast zu hastig, und rieb mir über die Arme, die Hände dabei ein paar Mal ballend und entspannend, um meiner kleinen Notlüge Nachdruck zu verleihen. Es erschien mir nicht klug, in diesem Moment, in dem ich nicht einmal wusste ob sich hier gerade eine Freundschaft entwickelte oder nur eine Zweckgemeinschaft ankündigte, damit heraus zu platzen, dass ich urplötzlich eine mörderische Wut verspürt hatte, die mir den Kopf fast vernebelte. Selbst wenn es sich nur um eine Zweckgemeinschaft handelte, und dies alles nicht das ist, was mein Vater – mein echter Vater – ein “Ausstrecken der Hand zur Freundschaft” genannt hätte, so wusste ich dennoch, dass ich im Moment Verbündete brauchte. Und Oman war nun einmal der Einzige, der sich bisher dafür auf- und angeboten hatte. »Direkt nach der Schule?« war letztlich das Einzige, was mir noch zu fragen einfiel.