
Die Totenglocke – Part 1
29/11/2020
Die Totenglocke – Epilog
01/03/2021Der nächste Morgen war kein Spaß. Ich war nicht zum Frühstück erschienen, auch wenn ich in Wirklichkeit einen Bärenhunger hatte. Obwohl meine Eltern zur selben Zeit wie immer das Haus verließen kam es mir vor als zöge es sich über Stunden hin, bis ich die Wohnungstür endlich in das Schloss fallen hörte. Ich hatte mich schlafen gestellt, im Vertrauen darauf, dass meine Mutter Schlaf immer noch für die beste Medizin hielt, wenn man “etwas ausbrütete”, wie sie zu sagen pflegte. In diesem Fall hatte sie zwar mit diesem Begriff durchaus recht, aber wohl nicht in dem Sinne, in dem sie es meinte. Ich brütete etwas aus. Ja, wir alle brüteten etwas aus. Aber keine kleine Erkältung, sondern unseren Plan, den Pfarrer aufzusuchen, in der Hoffnung, er könne uns helfen.
Wohl war mir bei diesen Gedanken natürlich nicht sonderlich. Obendrein fühlte ich mich wie gerädert, als die Luft endlich rein war und ich ins Bad verschwinden konnte, um mich fertig zu machen. Selbst als ich Abmarschbereit an der Tür stand begleitete mich dieses Gefühl des Unwohlseins noch, aber nun gab es kein Zurück mehr. Meinen Rucksack hatte ich entleert, bis auf die Glocke und eine Wasserflasche, so dass er sich unheimlich leicht anfühlte, verglich man es mit normalen Schultagen. Aber dies war nur eine Form physischer Erleichterung. Das Gewicht der Schuld lastete andererseits schwer auf mir und manifestierte sich in dem kleinen Bronzeguss, der wieder mit Taschentüchern ausgestopft und in Socken gehüllt meinen Weg begleitete.
Es war mir ganz recht, dass mich Oman auf meinem Weg zum Bahnhof nicht begleitete. Nicht nur dass ich mir so noch eben etwas beim Bäcker holen konnte, für die Fahrt, sondern auch weil ich so meiner Maulfaulheit nachgeben und still bleiben konnte. Nicht, dass ich es als zu gesund erachtete, mit meinen Gedanken allein zu sein. Sie waren ein wenig verworren und vor allen Dingen trüber als sonst, verglich ich sie mit allem, was mir vor dieser Sache normalerweise im Kopf herumspukte. Aber ich war wohl das, was man als einen Morgenmuffel bezeichnen konnte. Und so holte ich mir nicht nur Proviant und ein Frühstück, sondern auch gleich einen starken Kaffee mit.
Es dauerte nicht lange den richtigen Regionalzug zu finden, auch wenn ich noch ein gutes Stück am Bahngleis entlanglaufen musste. Wir hatten uns für das erste Abteil verabredet, das nun mal am weitesten Weg von der kleinen Geschäftsfront lag, die den großen Stolz unseres Bürgermeisters darstellte. Der Bahnhof war alt, aber nicht besonders groß, und so bildete die moderne Ladenzeile einen starken Kontrast zum alten Gebäude. So oder so: es hob den Komfort des Bahnhofs erheblich und die Geschäfte konnten nicht über zu wenig Umsatz klagen. Ich zählte selbst zu denen, die immer mal in dem kleinen Bahnhofsbuchladen stöberten, oder sich einen Kaffee mitnahmen, wenn sie den Bahnhof passierten.
Ein wenig besser gelaunt war ich also der erste unserer Gruppe, der im Regio Platz nahm. Ja, sogar der erste, der überhaupt in dem Abteil saß. Doch dies blieb nicht lange so. Seit die Fahrten großzügig zusammengestrichen und zusammengelegt wurden waren die Regionalbahnen oft rappelvoll. Ich war also froh, eines der kleinen Viersitzer-Abteile für uns sichern zu können. Da ich nicht der Einzige war, der einen Abstecher zum Bäcker gemacht hatte, waren mir die anderen beiden wohl auch ganz dankbar darum, den kleinen Tisch als Ablage nutzen zu können. Viel Besprechen konnten wir ohnehin nicht auf der relativ kurzen Fahrt. Zumindest wenn man sie mit meinem Urlaub auf Fehmarn verglich, wo ich sage und schreibe vierzehn Stunden im Zug verbracht hatte, um überhaupt mal auf die Insel zu kommen. Ich schätze jedoch, dass der Umstand, dass wir uns lieber still um unser Frühstück kümmerten, nicht nur der Morgenmuffeligkeit einzelner und der Vielzahl an potentiellen Zuhörern geschuldet war, sondern auch dem Umstand, dass Oman und Anja genauso gerädert wirkten wie ich selbst. Zu gerne hätte ich sie gefragt, ob sie das Opfer von Albträumen geworden waren. Denn ich für meinen Teil hatte gar nichts geträumt. Zumindest nichts, woran ich mich erinnern konnte. Ich war einfach nur in das Land der Träume hinübergeglitten und irgendwann wenig erholt aufgewacht, ohne irgendetwas dazwischen liegendes. Aber ich kam nicht dazu, beide zu fragen. Zwar stiegen doch viele Leute zwischendrin aus, aber sie wurden postwendend durch neu hinzugestiegene Passagiere ersetzt. Für einen Moment konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass wir auf gewisser Weise doch den Ameisen ähnlich waren, die Tag ein Tag aus emsig auf den Ameisenstraßen entlang tippelten, brav der Arbeit entgegen, die ihnen früher oder später wohl die Gesundheit und letztlich das Leben kosten würde.
»BAD STAFFELSTEIN! Ausstieg rechts!«
Der schnarrende Lautsprecher unterbrach meine Gedankengänge so jäh, dass ich fast den bis auf ein paar Tropfen geleerten Kaffeebecher umwarf. Wir stopften unseren Müll hastig in den dafür vorgesehenen Tischmülleimer, der so unappetitlich fest in die Tischplatte integriert am Überquellen wirkte, und erhoben uns.
Es stiegen relativ viele Menschen mit uns aus, verglich man es mit dem Zu- und Ablauf von Passagieren an den anderen kleinen Bahnhöfen dieser recht urigen Gegend. Wir hatten uns bei unserem Schulausflug das “Dorf” nicht näher angesehen. Aber jetzt fiel mir das Ortsschild auf, das eindeutig “Stadt” besagte. “Kleinststadt” wäre vielleicht zutreffender gewesen, denn hier konnten unmöglich allzu viele Menschen leben. Mir war es aber auch relativ egal, ob es sich nun um eine Stadt die wie ein Dorf wirkte handelte, oder um ein Dorf, dass sich für eine Stadt hielt; wichtig war mir einfach nur, dass wir möglichst wenigen Leuten begegneten. Dies Unterfangen stellte sich als nicht allzu einfach heraus, denn hätte ich meiner Lehrerin besser zugehört bei unserer Exkursion wäre mir vielleicht klar gewesen, dass es sich hier um einen Kur- und Tourismusort handelte, der davon lebte, dass Besucher kamen. Also waren meine Versuche unsere kleine Truppe über die kleinen Gässchen und Seitenstraßen zu führen im Grunde vollkommen sinnlos, denn genau dort fanden sich die architekturverliebten Urlauber und schmachteten mittelalterliche Fachwerkkunst an und im Wechsel dazu die ineinander verliebten Romantiker, die zwischen den alten Gebäuden flanierten und das Ambiente genossen. Unter anderen Umständen hätte ich den hübschen Fachwerkfassaden vielleicht auch mehr Aufmerksamkeit geschenkt, aber in diesem speziellen Fall war ich mehr auf den Weg konzentriert, um uns nicht noch zusätzlich Zeit zu Kosten in dem wir uns verliefen. Vielleicht war dies auch der Grund, warum mir gar nicht auffiel, dass wir alle außergewöhnlich still waren. Heute würde ich mutmaßen, dass die anderen zwei Mitglieder unseres unfreiwilligen kleinen Trupps an widerwilligen Abenteurern in Gedanken vielleicht schon bei dem waren, was vor uns lag. Ich für meinen Teil verschwendete jedoch keine Überlegung darauf, was wir dem Pfarrer erzählen wollten. Nein, es war bequemer und weniger beunruhigend für mich, einfach stumm der Wegbeschreibung zu folgen. Selbst den Friedhof ignorierte ich, so gut es ging, als wir ihn erneut überqueren mussten, um zu dem alten ausladenden Tor des Pfarrhauses zu gelangen, nachdem wir das Dorf längst hinter uns gelassen hatten. Der kleine Klingelknopf, der linksseitig des Durchgangs angebracht war, stand im klaren Kontrast zu dem alten Bau, der noch recht unberührt von der Moderne schien. Aber so oft wir das laut ertönende Signal, dass an einen Gameshow-Buzzer erinnerte, auch bemühten: Niemand kam und niemand öffnete das Tor für uns.
»Was jetzt?« fragte Oman eine Spur betreten, als er die Klingel schon zum dritten Mal betätigt hatte, etwas ratlos zu uns herübersehend. Mir fiel auf, dass er genau wie ich versuchte, den Blick auf den Friedhof zu meiden und stur die Kirche anvisierte, die in meinem Rücken lag.
»Wir könnten ja mal hineingehen? Vielleicht ist er da?« Anja schien weniger betroffen als wir beide, was ich darauf zurückführte, dass sie eher durch uns in diese Geschichte geraten war, denn selbst irgendetwas getan zu haben. Sozusagen eine gute Seele, die uns auf den rechten Weg zurückzuführen versuchte, aber keine Schuld auf sich selbst geladen hatte. Was hätte man ihr auch groß vorwerfen können? Sie hatte die Glocke nicht mal berührt, geschweige denn vom Grab genommen oder vom Friedhof weggebracht. Mehr als das beschäftigte mich jedoch der Umstand, dass von der Vertrautheit, die am vorangegangenen Tag zwischen uns herrschte, kaum etwas übriggeblieben schien. Ein unsicheres Lächeln, hier und da, aber keine Berührung. Kein Kuss beim Hallo sagen, keine herzliche Umarmung. Ja, sie hatte sich sogar neben Oman gesetzt im Zug, gleichwohl sie dies halb entschuldigte, damit dass ihr schlecht würde, wenn sie nicht in Fahrtrichtung saß. Hätte ich Oman auffordern müssen, mit mir den Platz zu tauschen? Oder wäre dies zu viel des Guten gewesen, zu aufdringlich und zu peinlich, für uns alle drei?
Wenn die Situation, hervorgerufen durch Omans dämliche Idee die Grabglocke zu entwenden, nicht schon verunsichernd genug gewesen wäre, hätte ich wohl Stunden damit zubringen können, diese Gedanken hin und her zu wälzen. Viel Erfahrung mit Mädchen hatte ich zu der Zeit noch nicht. Hier und da eine Liebelei, mal ein Kuss und Händchen halten. Aber es waren immer sehr kurze Stelldicheins gewesen, die fast so schnell vorüber waren, wie sie begonnen hatten. Und ich muss gestehen: Für die meisten dieser Mädchen hatte ich nicht einmal besonders viel empfunden. Es war einfach nett, nicht alleine zu sein und gemocht zu werden, aber nichts, was ich mit dem Begriff “verliebt sein” in Zusammenhang bringen konnte. Ein bisschen Schwärmerei vielleicht und etwas Zuneigung, aber eben nicht das, was alle immer beschrieben. Mich hatte nie ein unsichtbarer LKW getroffen mit der blitzartigen Erkenntnis, dass ich eine von ihnen lieben würde. Ich hatte nie Schmetterlinge im Bauch gehabt, oder das Bedürfnis, wie ein Idiot über die Sofas einer Talkshowmasterin zu hüpfen, weil ich “so glücklich” und “so verliebt” gewesen wäre. Nein, es war einfach nur nett und angenehm gewesen, ein wenig aufregend und letztlich ein gutes Gefühl, ihre Hände zu halten und mal ein Küsschen abzustauben. Aber mit Anja war es irgendwie anders. Ich kam nicht gegen den Drang an, immer mal flüchtig zu ihr zu blicken und zu beobachten, was sie tat. Ich fühlte ein wirkliches Bedürfnis, ihre Hand zu greifen und ihr nahe zu sein. Und ich wäre so viel lieber mit ihr an einem anderen, schönen und sicheren Ort gewesen, um mich einfach mit ihr zu unterhalten und ihre Nähe zu genießen. Aber die Dinge waren nun einmal so, wie sie waren.
»Kommst du endlich?«
Oman riss mich komplett aus meinen Gedanken und ich wendete mich hastig. Er und Anja waren bereits Richtung Kirchenstufen aufgebrochen und ich stand immer noch wie ein verlorener Narr auf meinem Posten, die Klingel anstarrend auf die niemand reagierte. Ich spürte röte meine Wangen aufsteigen und Omans Grinsen verriet mir, dass ich mir nicht nur einbildete, dass ich wieder auf dem besten Weg zu einer knallroten Birne war. Perfekt, um das Mädchen, dass ich wirklich mochte zu beeindrucken!
Mein Bedürfnis, mir selbst eine Ohrfeige zu verpassen, wurde jedoch abrupt unterbunden, als ich fühlte, wie sich schlanke Finger zwischen meinen hindurch schlangen und meine Hand griffen. Ich lächelte unweigerlich schief auf, mich jetzt endgültig wie ein Trottel fühlend, aber gleichsam konnte ich einfach nicht anders. Und es schien, dass mir Anja dies nicht einmal übelnahm, denn sie lächelte. Für einen Moment erwog ich sogar, mich bei ihr zu entschuldigen. Ich hätte sie niemals als feinfühlig eingeschätzt, oder so zugewandt. Im Gegenteil, ich hatte sie für oberflächlich, kalt und materialistisch gehalten. Aber zu meinem Glück – denn solch eine Entschuldigung hätte garantiert nichts Positives heraufbeschworen – öffnete sich die alte zweiteilige Eichentür der Kirche plötzlich schwungvoll.
»Nanu?«, lautete das erste Kommentar des alten Pfarrers, als sein Blick verwundert auf uns ruhte und seine buschigen Altherren-Augenbrauen immer höher wanderten, »was macht ihr um diese Uhrzeit denn hier?«
»Ahm,« setzte ich stockend an, »wir wollten zu ihnen, Herr Pfarrer.«
»Solltet ihr nicht in der Schule sein?«
»Das hier ist wichtiger. Wirklich.«
»Nun,« sein Blick glitt kurz zwischen mir und Anja hin und her, »ich traue keine Minderjährigen.«
Oman lachte auf und ich merkte, dass ich nicht mehr der einzige mit einem hochroten Kopf war, sondern auch ihre Wangen das strahlende Tomatenrot aufwarteten, das man in dieser Jahreszeit sonst nirgendwo finden konnte.
»Nein, nein,« beeilte ich mich hastig zu versichern, »es ist etwas völlig anderes. Aber können wir das vielleicht irgendwo drinnen besprechen?«
Die schon leicht eingetrübten Augen des wohlbewährten Pfarrers ruhten auf uns und er seufzte letztendlich leise auf, ehe er dann doch, entgegen meiner Erwartung, nickte. »Na gut, dann folgt mir mal.«
Wir taten, was uns geheißen wurde, und folgten dem alten Mann, dessen schwarzes Pfarrgewand fast bis auf den Boden reichte. Er führte uns durch das Kirchenschiff und die Sakristei in das Pfarrhaus hinüber, in einen kleinen Saal, der durch eine Schiebewand wohl vom Rest des Raumes abgetrennt war. Ich war nicht so oft in Pfarrhäusern gewesen, aber hatte schon von solchen Gemeindesälen gehört, auch wenn ich sie mir immer kleiner vorgestellt hatte. Wie Miniaturversionen der mietbaren Säle, in denen von Workshops bis zu Konzerten alles Mögliche stattfand. Vor allen Dingen hatte ich mir aber immer vorgestellt, dass solch ein Gemeindesaal mit mannigfaltigen religiösen Symbolen, Bildern und anderen Zeugnissen ihrer “Zugehörigkeit” ausgestattet sein müssten. Nicht “kahl”, im Sinne hoher holzgetäfelter Wände, bar jeden Bildnisses oder Schmucks. Das Einzige war ein Kreuz, das mittig der durch Fenster unterbrochenen Wände zu unserer linken angebracht war. Aber es war viel kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte. Groß genug, dass man es schwerlich dauerhaft übersehen konnte, aber nicht so groß und auffallend, dass man gar nicht anders konnte als hinzustarren und/oder sich beobachtet zu fühlen. Es war eher wie das Bild eines Freundes oder Familienmitgliedes, zu dem man ab und an ein Lächeln rüber warf, denn eine erdrückende symbolische Macht, die einem das unangenehme Gefühl aufdrückte, ständig im Schatten einen höheren Präsenz zu sitzen, die es besonders in unserem speziellen Fall wohl gerade nicht allzu gut mit uns meinte. Doch nichts desto trotz kam ich mir für einen Moment dämlich vor, als wir uns an einem der aufgestellten, großen runden Tische niederließen. Ich hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, dass wir, wenn in meinem Fall auch unwillentlich und ohne Absicht, in gewisser Weise geweihten Boden entweiht hatten. Sicher, darüber, wen wir damit verärgert haben könnten habe ich nachgedacht, aber meine Gedanken waren nie weiter gegangen als bis zu jener Person, die vielleicht in dem Grab lag, das von Omans überschwänglichem Wagemut betroffen worden war. Aber daran, dass dieser geweihte Boden nicht einfach nur weltlichen Instanzen gehörte, sondern zu einer Entität, die seit Jahrtausenden angebetet wurde, daran hatte ich bisher keinen Gedanken verschwendet. Und doch saß ich jetzt hier, quasi im Schoß einer seiner Gemeinden, in einem seiner Häuser einem seiner Diener gegenüber und blickte zu einem Symbol des Glaubens an ihn.
»Ein schönes Kreuz, nicht?«
Ich lächelte vage, als mich der Pfarrer wohl bei diesen Gedanken – oder zumindest Blicken – ertappte.
»Nicht so religiös, hm?« Er lächelte, auf eine gewisse Weise gutmütig, als wäre er dies vom “Jungvolk” schon gewöhnt.
Hastig nickte ich, auch wenn ich mich fast ein wenig schuldig fühlte.
»Ah, die Wege, die zu Gott führen, sind mannigfaltig.«
Ich lächelte wieder eine Spur, denn auf eine verrückte Weise hatte der alte Mann ja sogar irgendwie recht.
»Also was führt euch her, ihr drei?«
Ein paar Sekunden verstrichen still, da wir alle drei zögerten. Doch dann fasste ich mir ein Herz und zog das kleine Sockenbündel aus meinem Rucksack, es unter dem neugieriger werdenden Blick des Gottesdieners auf den Tisch legend, ehe ich zu erzählen begann.
Es war ein eigentümliches Gefühl, dem alten Mann von alledem zu berichten, was uns geschehen war. Mein Ausflug in die neblige Welt, der mir immer noch in den Knochen steckte. Thorstens ungewisses Schicksal. Meine nächtlichen Schrecken, und, zu guter Letzt, der unrühmliche Ausgang unserer Bemühungen, ein Ouija-Brett zur Kommunikation mit dem, was auch immer uns da heimsuchte, zu verwenden. Immer wieder ertappte ich mich dabei, dass mein Blick wahlweise von der Tischplatte zum Kreuz oder in die Ferne, die sich hinter den leicht trüben Scheiben der Fensterfronten andeutete, glitt. Mir kam die Geschichte, die ich erzählen musste, ja selbst unglaubwürdig vor. Ich fühlte mich in meine Kindergartenzeit zurückversetzt, als ich am Frühstückstisch saß und meine Eltern versuchte lebhaft davon zu überzeugen, dass mich ein T-Rex auf dem Weg verfolgen würde, weil er es jeden Tag tat – zumindest laut meiner kindlichen Fantasie, die mich davon überzeugte, dass dies real war. Aber ich war nun einmal schon lange nicht mehr Fünf und vor mir saß auch weder Vater noch Mutter, sondern ein mir nahezu unbekannter alter Herr, dem ich eine abstruse Geschichte auftischte, über ominöse Kräfte, die uns das Leben schwer machten und es, wie ich mir nur schwerlich eingestehen konnte und wollte, sogar gefährdeten.
»Ich lüge nicht,« war daher das erstbeste was mir einfiel dranzusetzen, als ich unsere unglaubwürdige Story endlich zum Besten gegeben hatte, »wirklich nicht.«
»Hm.« Es folgte eine unangenehme Stille auf die einzige Reaktion des Pfarrers, die mehr als dürftig ausfiel.
»Es tut mir leid, dass ich das mit der Glocke gemacht habe. Es sollte nur ein Joke sein, irgendwie. Eigentlich wollte ich die Mädchen damit ein bisschen erschrecken.« Oman versuchte die Stille zu vertreiben, erntete jedoch nur einen langen, von Schweigen begleiteten Blick des alten Mannes, ehe sich dieser schwer aufseufzend stärker in seinem Stuhl zurücklehnte.
»Ich glaube nicht an das Übersinnliche.«
»Aber sie glauben doch an Gott, und dieser ist auch Überirdisch, nicht?« Es war Anja, die leise zu ihm sprach.
»Gott, als der himmlische Vater, ist tatsächlich nicht als “irdisch” zu betrachten, mein Kind. Seht ihr drei, die evangelische Kirche hat ein zwiegespaltenes Verhältnis zu der Austreibung von Dämonen und insgesamt dem Thema Geister, oder schadhafte Geister, gleichwohl sie die von Jesus bewirkten Wunder, darunter auch Dämonenaustreibungen, natürlich nicht in Frage stellt. Aber weniger dem Alten Testament entnommen als Entitäten die aus der Hölle entsandt den Menschen das Leben schwer machen, begreifen wir “Dämonen” und jene schadhaften Geister als eine innere, destruktive Kraft, die der Mensch versuchen sollte zu überkommen. Insofern vertreten viele meiner Kollegen, als auch ich, die Auffassung, dass der Mensch in seiner schöpferischen Kraft solch destruktiven Kräften Raum verschaffen kann, kraft seiner Handlung. Das heißt, dass ein Dämon in dem Moment real wird, in dem jemand daran glaubt, dass es ihn gibt, dass er besessen ist, und seine Handlung von diesem beeinflusst oder gar bestimmt wird. Insofern unterstützt die evangelische Kirche auch keine Exorzismen, sondern verweist in solchen Fällen auf die Medizin und ihre Fortschritte. Denn am Ende arbeiten moderne Therapeuten im Grunde darauf hin, dass ein Mensch, der sich durch irgendeinen innerlichen Vorgang geknechtet fühlt und dem sowohl Handlungs- als auch Entscheidungsfreiheit dadurch geraubt wird, wieder zu einem bewussten und selbstbestimmten Selbst zurückfinden kann, in der er oder sie wieder vollkommen Herr über seine Handlungen ist.«
»Aber was sollen wir denn jetzt tun?« fragte Anja, dieses Mal mit wirklicher aufkeimender Verzweiflung in der Stimme, »Uns glaubt doch niemand. Wir nehmen keine Drogen oder so etwas, Herr Pfarrer. Wir bilden uns das nicht nur ein. Und wir können doch nicht alle zeitgleich plötzlich krank geworden sein und angefangen haben uns Dinge einzubilden. Außerdem ist da noch Thorstens Unfall, er kann sich doch nicht auf die Intensivstation “geträumt” haben.«
Ich hielt die Luft kurz an, als der Pfarrer weiter schwieg, seine Züge aber auf ihr ruhen ließ, als forsche er dort nach Antworten.
»Ich verstehe, mein Kind,« antwortete er fast zu ruhig, und mit gutmütiger Miene, die unweigerlich die Frage in mir aufkeimen ließ, ob er uns nur für arme Irre hielt, die auf einem schlechten Trip hängen geblieben sind. Doch er erhob sich, noch ehe ich meinen Zweifeln Ausdruck verleihen konnte, dass er uns ernst nähme. »Ich werde euch helfen.«
Er erklärte uns seinen Plan nicht genauer, doch wir folgten ihm dennoch, als er aufstand und uns einen Wink gab. Was ich verstanden hatte war, dass er wohl wüsste, um welches Grab es sich handelte, und dass der beste Weg Frieden zu schließen jener war, in aufrichtiger Reue um Vergebung zu bitten, auf dass man erlöst werde, von den eigenen Sünden. So wie jedermann jederzeit Gott um Vergebung bitten könne, für die kleinen Fehler und Missetaten, die man sich zuweilen zu Schulden kommen ließ. Das Gefühl, er glaubte uns unsere fantastisch anmutende Geschichte nicht so wirklich, nagte zwar beharrlich an der Hinterwand meines Verstandes, doch ließ ich die damit verbundenen Gedanken nicht Überhand gewinnen. Was brachte es auch, sich den Kopf darüber zu zermartern, ob der alte Herr uns für voll nahm. Die Hauptsache schien uns, dass er bereit war zu helfen und damit ein Ende all des Schreckens in Aussicht gestellt wurde.
Es war eigentümlich gewesen, zu beobachten, wie er seine langen schwarzen Ärmel zurückschlug und die kleine Glocke an sich nahm. Völlig ohne Furcht oder Scheu diese aus ihrer etwas unrühmlichen Polsterung auspackend und mir in Seelenruhe meine Socken zurückreichend, als wäre nichts weiter dabei. Uns war allen Unwohl, denke ich, in diesem Moment. Nur nicht dem Pfarrer, der vor uns herging, als wir das Kirchenschiff durchquerten. Seine Schritte waren gleichmäßig, fast gediegen, und hallten leise in dem hohen Raum wider, was mich sogleich an die Orte erinnerte, die wir – unfreiwillig – in den letzten Tagen besucht hatten. Aus einem Impuls heraus ergriff ich also das Wort, an der großen zweiteiligen Eichentüre innehaltend, die hinausführte: »Darf ich Ihnen die Glocke abnehmen?«
»Diese Glocke?« Der Pfarrer schüttelt die Hand schmunzelnd, nachdem er sie weit gehoben hatte, den Klöppel in Schwingung versetzend.
Ich weiß bis heute noch, dass mir das Herz in die Hose rutschte. Anja japste auf und ich grabschte nach der Grabglocke, sie sofort festhaltend, den empörten Blick des Pfarrers gar nicht richtig bemerkend. Oman trat unruhig von einem Fuß auf den anderen während er sich hektisch umblickte. Ein Beispiel, dem ich folgte. Er war noch nicht in einer jener seltsamen Zwischenwelten gewesen, irgendwo zwischen Tod und Leben sowie Schatten und Licht, so wie Anja und ich es schon waren. Aber er hatte unsere Erzählungen gehört und war nicht weniger erschrocken als wir beide. Verzweifelt versuchte ich mir einzureden, es würde nichts passieren. Immerhin war der Mann ein Diener Gottes und Kirchen die Häuser Gottes. Doch das vage Gefühl des Grauens, das uns beschlichen hatte als wir das helle Bimmeln wieder hörten, nagte persistent an den Rändern unseres Verstandes und schien kein bisschen daran interessiert, uns wieder aus seinem klammen Griff zu entlassen.
»Schon gut. Dies ist ein Ort des Friedens, und der Sicherheit.« Mit weit ausladender Geste seiner altersfleckigen Hand deutete der Pfarrer durch die Kirche, und versuchte uns zu beruhigen.
Es war auch durchaus beruhigend zu sehen, dass dieser Ort keineswegs in graues tristes Licht getaucht war, doch diese Ruhe kam mir nichtsdestotrotz trügerisch vor. Immerhin schien es mir jedoch nicht übel genommen zu werden, dass ich die Glocke etwas rüde entwendet hatte. Vermutlich hielt uns der alte Herr mittlerweile sowieso für vollends verrückt. Dies hinderte ihn aber nicht daran, uns mit seiner gutmütig-wohlwollenden Art etwas Sicherheit zu vermitteln. Und auch das Gefühl, er wäre sich absolut gewiss, dass all dies ein Ende und einen guten Ausgang haben würde, hatte etwas Trostspendendes an sich, so dass die Hoffnung bestärkt wurde, es wäre nun bald alles vorüber.
Es war wohl dieser Hauch der Hoffnung, der uns über die Schwelle der Kirche trug, als der Pfarrer die schweren alten Eichentore öffnete. Der vorgelagerte Friedhof lag immer noch still und vergessen da, doch diesmal konnten wir ihn nicht ignorieren, wie auf dem Herweg. Denn unsere Schritte führten genau auf jene alten Pfade, die sich im Lauf der Jahrhunderte, die er schon existierte, zwischen den Reihen alter Gräber ausgebildet hatten. Wir schwiegen, sah man einmal von dem alten Mann ab, der uns ein wenig über die Anlage erzählte. Keiner von uns konnte seinen Worten so ganz folgen, und den Daten, die er nannte. Auch nicht den kurzen Anekdoten zu einzelnen Gräbern und jenen, die dort beigesetzt hatten. Es war eigentümlich, in welch stoischer Gelassenheit er all diese Dinge von sich gab, während uns immer kälter und unheimlicher wurde.
Ich bin mir bis heute unsicher, ob er es wirklich nicht sehen konnte, oder dies nur seine Art und Weise war, Abstand zu der ganzen Situation zu halten. Der Friedhof wirkte bei weitem nicht so friedlich und tröstlich, wie das Kircheninnere sich angefühlt hatte. Die Nebelschwaden, die zwischen den einzelnen, reich verzierten und altertümlich wirkenden Grabsteinen hervorbrachen schienen dichter zu werden. Aber nicht nur der Nebel schluckte die Sonnenstrahlen, bevor sie den Grund erreichten. Obwohl es mittlerweile fast Mittag sein musste und wir auf dem Weg zum alten Pfarrhaus kaum eine Wolke am Himmel entdecken konnten, schien die lebensspendende brennende Scheibe verschwunden, und nur ein dunstiger Umriss zeichnete sich über unseren Köpfen ab. Anjas schlanke Finger fädelten sich wieder in meine, und ich hielt ihre Hand, mir ein Lächeln abringend um sie nicht weiter zu beunruhigen. Ihre Stirn war genauso in sorgenvolle Falten gelegt, wie auch meine und die Blicke die wir austauschten wurden sogar noch besorgter, als der Pfarrer begann, vor uns her gehend immer mal an einem Grab inne zu halten, nur um dieses für ein, zwei Minuten stiller Reglosigkeit in seinen Blick zu fassen. Wir konnten weder erkennen, noch im Geringsten erahnen, was er sich dabei dachte, denn seine Züge verrieten uns nichts. Sie wirkten ausdruckslos und leer. Ja, fast als würde er für einen Moment einfrieren, wenn seine milchigen Augen wieder einen der Grabsteine erfasst hatten. Oman rutschte dichter zu uns auf, als wir dem alten Mann um einen Steinsarg folgten, der dem zerbrochenen Deckel nach zu urteilen schon sehr lange leer war, sah man von dem Moosbewuchs ab der sich wie eine grüne Matte im Inneren ausgebreitet hatte. Schaudernd dachte ich an meine Impressionen unseres Schulausfluges zurück, darüber, wie es wohl sein musste, lebendig begraben zu werden. Sich des unabwendbaren Endes bewusst, dass einem der Sauerstoff ausgehen würde, aber unsicher, wie lange es wohl dauern mochte, bis dies eintrat. Würden die ersten Insekten schon vorher über einen kriechen und man ihnen hilflos ausgeliefert sein, unfähig, sie los zu werden? Zerdrückte man sie, konnte das doch nur weitere Käfer und Würmer anlocken, oder? Mal ganz abgesehen davon, dass so viele der lästigen kleinen Krabbler die Fähigkeit hatten, noch im letzten Moment ihrer Existenz Eier zu legen, und so den Weg frei zu machen, für eine ganze Armada an Nachkommen, die sich an den Stellen laben würden, die ihre Mütter bereits für sie angefressen hatten.
Es schüttelte mich. Der Pfarrer hatte sich, während ich so abgelenkt von meinen eigenen Gedanken nur auf meine Hand und die darin befindliche Glocke gestarrt hatte, weiter von unserer Gruppe entfernt. Für einen Moment schien es mir eigentümlich, dass weder Oman noch Anja ihn zurückriefen. Ihre blassen Gesichter starrten ihm im trüben Licht hinterher. Der Nebel hatte sich verdichtet und bildete nun eine träge Masse, die hier und da leichte Verwirbelungen zeigte, während wir uns durch ihn bewegten. Es war düster, wenn auch dank der einzelnen Lichtpfosten und des Restlichts der Sonne, das hier und da durch die Wolkendecke brach, nicht vollends dunkel. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Friedhof fast grau wirkte, als hätte ihm jemand das Leben und die Farbe gleichsam entzogen. Nur die knorrigen Baumstämme und unter unseren Füßen raschelnden Blätter bargen noch einige Brauntöne, wenn man sich auf ihren Anblick konzentrierte und nähertrat. Mir wurde unwohl, als ich begriff, dass dieser Anblick für mich nicht neu war. Meine Begleiter hatten diesen farblosen Morast eines grotesken Abbilds der Realität in dieser Form noch nicht erlebt, aber ich war schon einmal hier, in dieser seltsamen Welt, in der Schatten zu wandern schienen. Mein Herz stockte.
Ich fühlte mich unweigerlich ein paar Tage zurückversetzt, als die Glocke mich auf meine Reise zu eben diesem Friedhof geschickt hatte, durch Nebelwände in einer menschenleeren Welt. Nervösen Blickes sah ich nach dem Pfarrer, der gut zwei Grabreihen vor uns stand, und irgendetwas vor sich hin brabbelte, in Anbetracht eines besonders kunstvollen Grabsteines. Er ragte wie eine quadratische Säule auf einem Steinsockel aus dem Grund, doch die in mehreren aufeinander aufbockenden Etagen tief eingelassenen Steinbögen gotischer Natur gaben ihm einen Hauch von Filigranität, statt ihn klobig wirken zu lassen. Die Umrandung durch diese Steinbögen verliehen den Schriften, die davon eingefasst wurden, etwas Altehrwürdiges, das mich an die Steintafeln Moses erinnerte. Um die vier Kanten der hohen Stehle schmiegten sich fast runde kleine Säulen, die in kunstvolle Steinmetzarbeiten übergingen. Der Platz über dem “obersten Stockwerk” dieser Miniaturarchitektur wurde von römischen Ziffern geziert, von denen aber nur noch ein Bruchteil erhalten war. Ich konnte nicht erkennen, aus welchem Material sie wohl einmal gegossen wurden, aber, dass sie nicht in den Stein gehauen waren, sondern aufgesetzt. Und die “Krone” des Grabsteines bildete ein Mauerornament, dass den oberen Rand umfasste, und auf dem ein dreidimensionales Kreuz thronte, dessen Enden jeweils spitz zuliefen. Ich fragte mich unweigerlich, ob dies das Grab war, dass wir suchten, doch ein Blick zu Oman und dessen energisches Kopfschütteln verriet mir, dass dem nicht so war. Der Pfarrer stand immer noch vor dem alten Grabstein, doch hatte er aufgehört zu Brabbeln, und dafür die Hände weit gen Himmel gereckt. Wir hielten inne, dies kurz betrachtend, und mehr als unsicher darüber, was wir nun tun sollten. Ich war schon drauf und dran, mich dem alten Mann zu nähern, als mich Anja rasch zurückzog. Seine schwarze Kluft bauschte sich auf, als er auf seine Knie sackte, und plötzlich laut zu rezitieren begann: »Daemonium repetit, quicquid procedit ab ipso. De profundis clamavi ad te, Domine.«
Er wiederholte es immer und immer wieder, bis er fast schrie. Doch als würde uns dies nicht genügend in Panik versetzen mischte sich noch etwas in seine Stimme. Es war eine Art dumpfes Stöhnen und ein klagender Laut der als Beiklang den Worten mitschwang die weit über den Friedhof hallten, dass ich für einen Moment strauchelte, bei dem Gedanken daran, dass ich auch dies schon einmal gehört hatte. Sein dunkles Gewand floss über den Boden, und ich sah mich für einen Moment wieder mit Anja in dem engen Gang stehen, dessen Zusammenbruch uns fast das Leben gekostet hatte. In jäher Erkenntnis wurde mir klar, dass das was ich dort fürchtete vielleicht das war, was nun vor mir lag und sich langsam über den Boden zog, während die Worte immer unklarer wurden und stärker in das Klagen übergingen, dessen keuchende Ausläufer durch die Gänge gekrochen waren, als Vorboten der schrecklichen Entität, die sie verursachte.
»Weg hier!« brüllte ich unvermittelt, als sich der schwarze Fleck in unsere Richtung und von dem Grabstein abwand. Ich griff Anjas Hand fester und zog sie mit einem Ruck mit um sie von dem Anblick los zu reißen, der sie zu fesseln und am Boden festzuwurzeln schien und begann zu laufen.
»Los, los, los!« feuerte Oman unsere kleine Gruppe an, mit der Dringlichkeit, die in seiner Stimme lag, neue Kräfte freisetzend.
Wir rannten, und rannten, und ich weiß nur noch, dass ich erst innehalten konnte als es plötzlich nicht mehr weiter ging, denn Anja war auf ihre Knie gesunken und keuchte, sich die Seite haltend.
»Ich kann nicht mehr, ich kann wirklich nicht mehr…« klagte sie leise und veranlasste mich, neben ihr in die Hocke zu gehen.
Oman bleib auf seinen Beinen und sah sich hektisch um. »Er ist nirgends zu sehen.«
Ich antwortete ihm nicht, sondern sah mich erst einmal selbst um. Dieser Teil des Friedhofs schien mir völlig unvertraut, doch verwunderte es mich weniger, in einem unbekannten Teil der letzten Ruhestätte so vieler armer Seelen gelandet zu sein, als viel mehr, dass wir uns überhaupt noch auf dem Friedhof befanden. Wir waren sicher mehr als fünf Minuten gerannt, bevor das grauenerregende Stöhnen und Keuchen leiser wurden, und noch einmal mindestens fünf Minuten, bis Anja zu Boden gesunken war.
»Wo sind wir?« fragte ich daher leise in die Runde.
»Ich glaube wir sind hier vorbeigekommen,« antwortete Oman gedämpft, »aber sicher bin ich mir nicht.«
Mein Blick schweifte wieder umher und blieb auf den Grabreihen, die hier dichter standen, liegen. Es war keine optische Täuschung gewesen, dass mir die Gräber sehr klein vorkamen, kaum halb so groß wie eine übliche Beisetzungsstätte. Anja verhinderte jedoch, dass ich einen klaren Gedanken fassen konnte. Jäh zog und drückte sie sich an mir hoch, mich dann halb auf die Beine ziehend und in Richtung einer anderen Grabreihe drehend, um zitternd in die Richtung zu deuten, unfähig zu sprechen. Ich erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf einen Schatten, der sich hinter einem der kleinen Grabsteine bewegte und wollte schon dazu übergehen, sie damit zu beruhigen, dass dies nur ein Ast war eines im Wind wiegenden Baumes, als mir selbst ein weiterer Schatten auffiel. Ihr Atem brandete heiß gegen meinen Hals, als ich sie an der Hüfte näher zog, und jetzt selbst hart schlucken musste. Es ging kaum Wind, und die Bäume die auf dem Friedhof standen waren zumeist in den Randbereichen zu finden und nur spärlich dort verteilt, wo wir uns befanden.
»Oman, kannst du das sehen?« flüsterte ich leise, ohne den Blick von den kleinen Gräbern zu nehmen, darauf gefasst, dass jederzeit etwas hervorspringen konnte. Doch Oman antwortete nicht.
Ich wendete mich, um nach ihm zu sehen, doch bereute es augenblicklich.
Oman stand kaum zwei Meter von uns entfernt, doch schien er zu einer Salzsäule erstarrt. Seine Augen wirkten geweitet und seine sonst in lebendigem braungebräuntem Ton aufwartende Haut hatte fast die Blässe eines weißen Bettlakens erreicht, während sein Mund leicht offen stand. Vor ihm stand eine kleine Gestalt, nicht höher als das, was Anja wohl deutlicher als ich hinter den Grabsteinen umherhuschen sah. Der Schemen war kaum mehr als ein undeutlich ausgestanztes Negativ im ansonsten weißlich-grauem Nebel, der uns einhüllte, doch wies er frappierende Ähnlichkeit mit einem Kind auf, ihm nicht einmal bis zur Hüfte ragend. Was ich zunächst für Ausläufer der Schattengestalt hielt, war bei kurzer Überlegung vielleicht eher der Saum eines altertümlichen Rüschenkleides, auch wenn es schwer war, viele Details auszumachen. Mir wurde schlagartig klar, warum die uns umliegenden Gräber so klein geraten waren, und in welchem Bereich des Friedhofes wir uns verlaufen hatten. Oman japste leise nach Luft, als er vor dem Schattenmädchen zurückwich, dabei fast gegen Anja laufend, die sich nun auch noch an ihn klammerte, und nicht mehr nur an mich. Ich versuchte klar zu denken, doch meine Gedanken rotierten. Die Luft roch mit einem Mal so viel modriger und stickiger, so dass ich mich gezwungen sah, tiefer einzuatmen. Aber kaum tat ich dies stieg mir dieser beißende Geruch nach verfaulten Eiern wieder in die Nase, den ich schon zu Hause gerochen hatte, in jener Nacht, als alles seinen Anfang nahm. Es war der bissige Gestank von Schwefel, der uns einhüllte, als wären wir in die Entwicklungsabteilung einer Chemiefabrik gestolpert, die gerade ein neues Produkt zur Vertreibung von Wildtieren und Nachbarn zu entwickeln versuchten. Ich spürte, wie mein Herz immer heftiger schlug, und zwang mich trotzdem, wieder flacher und durch den Mund zu atmen. Das Einzige woran ich denken konnte war, dass das Grab, zu dem die Glocke gehörte, wohl nicht hier stehen könne, denn Oman hatte gesagt, dass er hier noch nicht war. Also raffte ich all meine noch übrig gebliebene Selbstbeherrschung zusammen und zwang mich, die Augen von der kleinen Gestalt abzuwenden, und mich halb zu drehen. Doch trotz aller Bemühung, einen klaren Kopf zu bewahren, entfuhr mir unwillentlich ein tiefes Aufstöhnen, als mein Blick die Gräberreihen wieder passierte, die Anja und ich zuvor schon argwöhnisch beobachtet hatten; das Mädchen war nicht alleine. Ich keuchte leise auf, als sich Anjas Finger plötzlich in meinen Arm bohrten, insgeheim jedoch um diesen Schmerzimpuls dankbar, denn er riss mich aus meiner Starre.
»Du musst uns zu diesem verdammten Grab führen« flüsterte ich Oman zu, als könnte ich unsere unheimlichen Besucher aufschrecken, wenn ich zu laut spräche.
Mein Kamerad musste es wohl ganz genauso empfinden, denn statt zu antworten setzte er sich nur langsam und vorsichtig in Bewegung, zu Beginn sogar rückwärts laufend, weg von den kleinen Gestalten, die darauf aus schienen uns zu folgen. Das Schattenmädchen verschwand, doch dafür sahen wir wie immer mehr der in ein paar Metern Entfernung bereits vom dichten Nebel verschluckt werdenden Figuren erschienen, nur um dann wieder hinter dem nächsten Grabstein zu verschwinden. Ohne darüber nachzudenken wurden wir wieder schneller, denn es schien, dass sie jedes Mal, wenn wir drohten inne zu halten, sich näher heranwagten. Oman führte uns kreuz und quer durch die Grabreihen, während unsere Schritte auf dem ausgetretenen Pfad knirschten. Kleine Steine, Ästchen und Blätter mischten hier und da ein Knacken und Rascheln mit hinein, doch ansonsten schien jedes Geräusch auf dem Friedhof verschluckt zu werden. Als gäbe es außerhalb des gusseisernen Zauns nichts Lebendiges, der das Ende der Begräbnisstätte bildete und von uns einfach nicht gefunden wurde. Genauso wenig wie innerhalb der Begrenzung, sah man einmal von uns ab. Das beunruhigende Gefühl, wir wären die Eindringlinge, begleitete jeden Meter den wir zurücklegten und unsere unheilvollen Begleiter trugen nicht dazu bei, dass wir auch nur den Hauch von Sicherheit verspürten. Im Gegenteil. Die Furcht hatte von uns Besitz ergriffen und ließ diesen Ort noch unheimlicher wirken, das Gefühl, die Bedrohung folge uns auf Schritt und Tritt, zu einer seltsamen Gewissheit werden lassend, die nun jede unserer Bemühungen überschattete.
Wir hatten längst jedes Zeitgefühl verloren, als Oman etwas unvermittelt innehielt und ein paar Meter in den Nebel hineindeutete, wobei mir auffiel, wie stark sein Arm zitterte. Das Mädchen stand wieder auf dem Weg, uns diesen versperrend, doch schienen ihre Umrisse diesmal deutlicher. Ihr weißes Kleid, dessen leicht ausgestellter Rocksaum tatsächlich mit Rüschen besetzt war, erinnerte mich fast an ein aufgebauschtes Taufhemd, auch wenn es mit einem breiten Stoffschal an der Hüfte gegurtet war, der in einer opulenten Schleife gebunden wurde. Einer ähnlichen Schleife, wie sie im Haar trug, nur kleiner. So nah schien die Bedrohung einerseits greifbar, andererseits zu schwinden, denn ihre blassen Züge zeigten eine eigentümliche Mischung aus Neugierde und Traurigkeit, doch keinerlei Aggression. Sie drehte sich leicht auf der Stelle, immer wieder sacht ein wenig nach links und rechts, einen Arm dabei schlenkern lassend, wie es kleine Kinder zuweilen zu tun pflegten, und kaute unsicher an ihrem Fingernagel herum – oder zumindest dem halbstofflichen Abbild dessen, was einmal ein Fingernagel war. Jedes Mal, wenn sie sich ein wenig Bewegte schien es fast, als würde ein Schimmern über ihre kleine Gestalt laufen, denn während eines Parts ihres kleinen Leibes fast durchsichtig wurde, formte sich das Abbild eines anderen stärker heraus. Fast, als fließe der Nebel durch sie hindurch, aber ihre Konturen dabei jedes Mal herausarbeitend, nur damit sie dann, im Anschluss, wieder zerflossen.
Mein Herz pochte wieder, als spränge es mir gleich aus der Brust, doch diesmal empfand ich nicht nur pure Angst. Nein, ich empfand auch Mitgefühl, ja sogar Sympathie, für dieses kleine unschuldige Ding, dass einfach nur dastand und uns beobachtete.
»Hallo, kleine Lady,« sprach ich sie aus einem Impuls heraus einfach gedämpft an und ging dabei in die Hocke, »kannst du uns vielleicht helfen?«
Ich weiß nicht mehr genau, wie Oman und Anja reagierten, denn ich konzentrierte mich auf die geisterhafte Gestalt vor mir. Sie lächelte eine Spur und trat einen Schritt näher, nachdem sie mich noch einen Moment lang beäugt hatte.
»Wir haben hier etwas, was wir zurückbringen möchten,« sprach ich wieder, so sanft wie mir möglich war, und zeigte die Glocke auf meiner flachen Hand hervor. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass nicht nur das kleine Mädchen nähertrat. Nein, es war auch als würden die anderen schemenhaften Gestalten, die uns schon eine Weile gefolgt waren, sich über und um die Grabsteine herum recken, um einen Blick erhaschen zu können. Anja japste neben mir leise auf, und als ich meine Augen wieder gerade aus richtete verstand ich auch warum. Unsere kleine, stille Freundin mit dem traurigen Blick stand nun direkt vor mir und beäugte den Bronzeguss in meiner Hand.
»Wir suchen das Grab, zu dem diese Glocke gehört, und können es nicht finden…« versuchte ich mein Glück wieder, doch das Mädchen legte ihren Finger vor ihre Lippen, ehe es sich umsah. Ein eisiger Wind zog durch die fast ebene und recht freie Fläche auf der wir uns befanden, ein paar farb- und trostlose Blätter vor sich hertreibend, und wieder das klagende Stöhnen mit sich tragend, dass wir dachten schon weit hinter uns gelassen zu haben. Ich fröstelte und sah mich automatisch in die Richtung um, aus der es zu kommen schien, nur um im nächsten Moment zu bemerken, dass das Mädchen nicht mehr vor mir stand. Mein Herz setzte für einen Schlag aus und ich hätte am liebsten nach ihr gerufen, auch wenn ich ihren Namen noch nicht einmal kannte. Uns lief die Zeit davon und ich hatte keine Idee, wie wir in diesem dämmrigen Licht, beschwert durch den alles verschluckenden Nebel, das richtige Grab finden sollten, doch Anja griff meine Schulter fester. Automatisch den Blick in diese Richtung wendend sah ich die Kleine wieder, die in einiger Entfernung auf dem Pfad zu warten schien, und eine auffordernde Bewegung mit der Hand machte, als sollten wir ihr folgen. Die Bäume, die wie verkohlte Gerippe pechschwarz in einiger Entfernung hinter ihr aus dem Boden ragten waren nicht einladender, als die Grabsteine, hinter der sich weitere Schattengestalten sammelten. Doch entweder wir kamen ihrer Aufforderung nach oder wir liefen dem klagenden Stöhnen entgegen, dass der Wind wieder zu uns herübertrug.
Ich setzte mich in Bewegung, gleichwohl es mir ein mulmiges Gefühl bescherte, dieser geisterhaften Erscheinung zu folgen. Das Knirschen unserer Schritte konnte das schwere Keuchen nicht übertönen, das uns zu Folgen schien, als würden wir wie Vieh vor ihm hergetrieben werden. Wann immer ich dachte, es seien nur noch wenige Schritt zu laufen, verschwand das Mädchen für einen Moment, um dann einige Meter weiter weg wieder aufzutauchen. Wir hatten längst jegliche Orientierung verloren und ließen Grabreihe nach Grabreihe hinter uns, wobei die Erdgräber längst wieder normale Größe angenommen hatten. Wie lange wir der geisterhaften Gestalt folgten kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Nur so viel: Es muss eine ganze Weile gewesen sein, denn unsere Kleidung hing mittlerweile klamm an unseren Leibern und die Kälte begann sich durch unsere Glieder zu fressen, die dadurch zunehmend versteiften. Wir sprachen kein einziges Wort, auf dem ganzen Weg, sondern liefen stattdessen dicht beisammen. Ein paar Mal dachte ich dennoch, wir hätten Oman verloren, der selten mehr als einen Meter zwischen sich und uns ließ. Aber dies schien dem Umstand geschuldet, dass der Boden hier lehmiger wurde und die Geräusche unserer Schritte dämpfte. Das kleine Mädchen, das uns nach wie vor führte, verursachte natürlich keinen Lärm, wenn es vor uns kurz flackerte, verschwand, und dann wieder erschien, wie ein Leuchtfeuer in der grauen Tristesse unserer sonstigen Umgebung herausstechend. Ich begann mich bereits zu fragen, ob es eine kluge Idee war, ihr zu folgen, da tauchte sie unvermittelt am Rand des Pfades auf und verweilte dort. Statt uns weiter mit ausholenden Hand- und Armbewegungen zu animieren, ihr weiter zu folgen, deutete sie nun den ausgetretenen Pfad hinab, zu einem Bereich, der sehr alt wirkte, und nicht so, als wäre er noch viel genutzt. Die Bäume standen dichter und ein paar der näherstehenden Grabsteine, auf die wir trotz Nebels noch einen Blick erhaschen konnten, standen schief. Die Stämme und Äste der Bäume bohrten sich wie ein dunkles Mahnmal in die Szenerie, und es wirkte fast, als würde dort ein kleiner Wald
beginnen.
»Das ist es!«
Ich schrie fast auf, als Oman mit diesen Worten meinen freien Arm unvermittelt packte. Den anderen hielt Anja noch in ihrem schraubzwingenartigen Griff, nur unwillentlich langsam loslassend.
»Das Grab?« Es war nicht einfach, für mich etwas zu erkennen, während ich meine Finger geflissentlich öffnete und schloss, um die Blutzirkulation meines nun freien Armes wieder anzukurbeln.
»Ja, dass da links, etwas weiter vorne.« Er deutete in die Nebelwand hinein, und ich folgte seinem Fingerzeig mit dem Blick, die unregelmäßig verteilt wirkenden Grabsteine musternd, bis ich jenes entdeckte, dass Oman wohl meinte. Es wirkte alt, und relativ schlicht. Eine dicke Platte, die oben abgerundet war. Ein Art Blumenbouquet aus Stein prangte am Scheitelpunkt der Rundung, darunter im halbrunden Bogen ein gotisches Kreuz. Vermutlich war die Grabinschrift einst in dem darunter abgesetzten, rechteckigen Einlass zu Lesen gewesen, doch in diesem verwitterten Zustand konnte ich nur die Anfangsbuchstaben L und i erkennen, die mir nicht wirklich etwas zu sagen vermochten. Ähnlich des Grabes, an dem wir den Pfarrer zurücklassen mussten, waren auch hier die Kanten durch säulenartige Bögen abgerundet worden, von denen mehr als einer einen sichtbaren Riss besaß. Am auffälligsten war aber wohl die Aufhängung, die mit einer ähnlichen Patina wie unsere Grabglocke versehen leicht und metallartig schimmerte. Sie war an der Seite des Grabsteins angebracht, und wohl einmal verschnörkelt gewesen. Heute erinnerte jedoch nur das filigran auslaufende Ende, dass sich nach innen einrollte um als Aufhängung dienen zu können, an jene kunstfertige Arbeit.
»Danke« entfuhr mir unwillkürlich, als ich mich dem kleinen Mädchen zuwenden wollte, doch sie stand nicht mehr an ihrem Platz. Es wirkte, als wäre sie zurückgewichen, vor dem, was dort vor uns lag. Von einer schlimmen Vorahnung ergriffen wand ich mich wieder dem nun so verheißungsvoll nah wirkendem Ziel unserer Reise zu, doch erstarrte noch in der Bewegung begriffen. Die Glocke vibrierte in meinen Händen, doch gab keinen Laut von sich. Dafür erklang ein Geräusch, dass mich an einen über eine Tafel kratzenden Nagel erinnerte, als sich langsam ein Schatten hinter dem Grabstein zu erheben schien, so dass man gerade seine Umrisse hinter dem Grab hervorlugen sehen konnte. Zu meinem Entsetzen begriff ich auch, was das unangenehme Kreischen verursachte, dass mir so vertraut erschien, erinnerte es doch an die Geräusche, die ich unter der alten Schuhfabrik vernommen hatte. Lange, schwärzliche Krallen umgriffen den Grabenstein von beiden Seiten und wurden langsam über diesen gezogen.
»Nein… nein, nein… nein…« konnte ich Oman Keuchen hören, ehe er sich umwand und zu Rennen begann.
»WARTE!« brüllte ich hinterher, aber es war bereits zu spät. Er hechtete den Weg zurück, den wir gekommen waren, und das schattenartige Gebilde ihm hinterher, soweit ich es beurteilen konnte. Immer wieder tauchte seine schwarze Silhouette hinter den Grabsteinen auf, doch dafür waren die anderen Gestalten, die unseren Weg gesäumt und begleitet hatten, verschwunden. Auch von dem kleinen Mädchen war keine Spur mehr übrig und ich fühlte mich für einen Moment so hilflos und allein gelassen, wie selten in meinem Leben zuvor. Mein eigener schwerer Atem übertönte das Geräusch von Omans Schritten bald, der immer noch zu Rennen schien, bis es auf einmal in der Ferne einen dumpfen Schlag gab, gefolgt von einem Aufschrei, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Schmerz und pure, ungefilterte Angst deformierten ihn zu einem jener Schreie, die sich einem von Verzweiflung getragen in Mark und Bein bohren konnten. Anja begann heftig zu Schluchzen und zog an meiner Hand, doch ich war unfähig mich zu bewegen. Mehr als ein paar Schritte schaffte sie nicht, mich weiter zu ziehen, ehe sie meine Hand losließ. Das kleine Kreuz, dass um ihren Hals baumelte fest in ihrer Faust umklammert haltend stolperte sie wohl Oman nach, oder zumindest in die Richtung, in der seine Stimme mittlerweile verklungen war. Ich hörte sie das “Vater unser” stammeln, unfähig zu begreifen, was hier vor sich ging und unfähig, mehr zu tun, als ihr hinter her zu starren, als der Nebel auch ihre Gestalt zu verschlucken begann. Erst als ich nichts mehr von ihr sah und ihr heißeres, leises Stammeln fast verklungen war, begriff ich, dass Angst mir die Glieder lähmte. Pure, nackte Angst, die einem selbst in dieser Kälte den Schweiß auf die Stirn trieb. Doch ich hatte nicht nur Angst um mich selbst. Oman war nicht mehr zu hören, Anja war irgendwo, und ich konnte einfach nichts tun um sie oder mich zu schützen.
Bebend wendete ich mich orientierungslos im Kreis, bis ein helles, leises Flüstern mich innehalten ließ: »Lauf nicht weg.«
Wenn ich bis zu diesem Punkt von heller Aufregung und blanker Angst erfasst war, so schlug sie jetzt in Panik um. Ich hatte nicht einmal genügend Zeit, darüber nachzudenken, ob ich mir die Stimme eingebildet hatte, oder nicht. Ohne mich umzusehen wer oder was mir dies zugeflüstert hatte begann ich zu Rennen, schnurstracks in die Richtung, in die auch Anja und Oman verschwunden waren. Ich brüllte aus Leibeskräften nach beiden, aber erhielt keine Antwort und spurtete einfach weiter, in der Gewissheit, ich würde sie auf diese Weise wohl früher oder später einholen. Doch ich fand sie einfach nicht. Keine Spuren, keine Fußabdrücke, einfach nichts. Versessen darauf die beiden wiederzufinden und diesem schrecklichen Ort zu entkommen, der den Pfarrer verrücktspielen und Oman so brüllen hatte lassen, bemerkte ich nicht einmal wirklich, wohin ich lief. Erst als die Erschöpfung und der Sauerstoffmangel mich zwangen, langsamer zu machen, nahm ich wieder genügend von meiner Umgebung wahr, um zu bemerken, dass ich diesen Teil des Friedhofes kannte.
Ich stand wieder vor der Krypta, in der die Mädchen und ich damals beim Schulausflug Zuflucht gesucht hatten.
Ihre schon teilweise eingestürzten und von Rissen durchfurchten Wände lagen unbewegt da, wie damals, und der Nebel trieb in Schwaden um das kleine Steingebäude herum. Meine Finger hielten den kleinen Bronzeguss umklammert, als hinge mein Leben davon ab, und ich keuchte leise. Mir war so elend zumute. Ich fühlte mich so hilflos, verloren und ohnmächtig, dass ich am liebsten losgeheult hätte.
»ANJA?! OMAN?!« stellte ich mein Glück auf die Probe, meinen Mut zusammennehmend. Aber statt selbstbewusst und einem Anführer gerecht meine Gruppe mit klarer Stimme und Sinnen wieder zusammen zu trommeln klang es eher wie der Hilferuf eines Ertrinkenden, der kaum noch genug Atem übrig hatte, sich über Wasser zu halten.
»OMAN! ANJA!« probierte ich es noch einmal, fast in ein Aufschluchzen übergehend. Was sollte ich nur tun? Omans fürchterliche Schreie hallten in meinem Inneren wider, und unweigerlich förderte dies die Frage zutage, ob Anja nicht auch gerade irgendwo läge, und sich die Seele aus dem Leib brüllte, ohne dass ich davon überhaupt etwas mitbekam. Ich nahm all meinen Mut zusammen.
»OMAN, ANJA!« schrie ich hinaus in die Nebelwelt, und als ich wieder keine Antwort bekam, konnte ich einfach nicht mehr. Ich wollte nur noch weg, von diesem Friedhof, weg von dieser Glocke, weg von all der Gefahr und dass wir alle in Sicherheit waren. Was hätte ich tun sollen, in dieser Situation? Außer mir vor Sorge um die anderen, selbst bis in die tiefsten Winkel meiner Existenz von Angst erschüttert, ohne den Hauch einer Ahnung wo ich Hilfe hätte holen können, oder was ich nun tun sollte? Der Kampf, der in meinem Inneren tobte war gewaltig. Alles in mir schrie nach Flucht, doch ich wusste nicht einmal wohin ich hätte fliehen können. Und dann waren da noch Anja, die im Nebel verschwunden war und Oman, der von dieser Bestie verfolgt worden war. Dennoch wollte ich einfach nur noch weg. Der Versuch mich zu beruhigen schlug fehl, und stattdessen rannen mir Tränen die Wangen hinunter. Es fühlte sich an, als laufe heißes Öl über meine kühle Haut, aber dies war mir egal. Aber das Gefühl erinnerte mich an etwas. An Anjas Tränen, die auf meinen Hals fielen, als wir dicht an dicht gedrängt in den Tunneln unter der alten Schuhfabrik auf unser Ende warteten, ohne einen Ausweg in Sicht.
»OMAN! ANJA!« Es war nur ein heißerer, halberstickter Aufschrei, den ich noch zustande brachte, ohne jedes Ergebnis. Mehr einem Impuls als auch nur ansatzweise einem klaren Gedanken folgend ließ ich den unteren Teil der Glocke und deren kleinen Klöppel los, und begann sie zu läuten. Vielleicht, so lautete die vage Hoffnung am Rande meines Bewusstseins vermutlich, würde dies alles beenden und diesen Albtraum auflösen, als hätte er nie stattgefunden. Oder vielleicht würden die Anderen zumindest dieses Signal hören, denn ich hatte keine Kraft mehr, weiter zu Schreien.
Ein paar Blätter unter meinen Füßen zermahlend wendete ich mich wieder in die Richtung in die ich gekommen war und lauschte hinaus in das Dämmerlicht. Die Sekunden verstrichen, doch kamen mir vor wie Minuten, die ich so reglos verharrte, in der Hoffnung, ich würde ein Lebenszeichen der beiden erhaschen oder die Welt zumindest aufhören, weiter in dem nebligen Grau-in-Grau zu versinken, dass mich einhüllte.
Doch das Einzige was mir schlussendlich antwortete war ein schleppender, rasselnder Atemzug – hinter mir.
Ich fuhr herum und für einen Moment rebellierten meine Eingeweide, als ich mich der Krypta wieder zuwendete.
Aus ihrem unheimlichen Spiel aus Schatten und Nebel schälte sich die groteske Gestalt einer nur noch entfernt humanoid wirkenden Figur hervor. Längliche Stacheln ragten unwirklich scheinend aus ihrem Rückgrat in die Luft empor, an die Wirbel buckelbewehrter Tierskelette erinnernd, nur dass sie nicht elfenbeinfarben oder knöchern wirkten. Man konnte die Arme dieser Abnormität noch als solche erkennen, ja, sie liefen sogar in Händen aus, doch die Mittelglieder der daran hängenden “Finger” liefen in einzelnen, langen Krallen zusammen. Jene Krallen, die über den Grabstein gekratzt hatten. Der Kopf des Monsters schien im ersten Moment von etwas behangen, dass ich am ehesten einem Leichentuch gleichsetzen konnte, die Züge verhüllend. Doch jenes tuchartige Gebilde endete in Streifen, als wäre es zerschlissen und zerrissen, im Lauf der Jahrhunderte. Diese ganze Gestalt, in ihrer morbiden albtraumhaften Erscheinung, schien eher der Fantasterei eines Schriftstellers entsprungen. Statt aus Haut und Knochen schien sie aus Schatten zu bestehen, der ineinander verwoben wie ein unheiliges Leichentuch alles zusammenhielt. Das, oder die Haut, die ich nicht einmal als solche erkennen konnte, war von einem Unlicht überwuchert, dass ich allenfalls als “Anti-Lumineszenz” beschreiben könnte. Sie schien keinerlei Licht abzugeben, sondern im Gegenteil, dieses wie ein gefräßiges Loch dessen Boden nie erreicht werden konnte zu verschlucken, so dass die Dunkelheit, die von dieser Kreatur des Grauens ausging, nicht nur mentaler Natur schien. Ich weiß es nicht besser zu berichten als dass diese abnormale Schreckgestalt mich an Diskussionen über die menschliche Natur erinnerten, denn in jeder solchen Diskussionsrunde gab es einen der sagte, der Mensch sei von Natur aus verdorben und neige dazu, nicht nur sich, sondern auch seine Umwelt zu pervertieren, gleichwohl er, der Mensch als Gegenstand allgemeiner Betrachtung, genau damit den Nagel in den Sarg seines eigenen Unterganges schlug. Nie habe ich mich der Definition von Perversion und Abnormalität näher gefühlt, als in diesem Moment, in dem ich in die gesichts- und seelenlose Fratze starrte, deren schleppende keuchende Atemzüge den Raum mit gequält wirkenden Lauten füllte.
Ich bebte am ganzen Leib. Mir war so kalt, dass ich mich fragte, was mich eher niederstrecken würde: Die Kälte oder dieses unheilige Wesen, dass mich ungerührt anzustarren schien, als blicke es einfach durch mich hindurch?
»E… e… es tut uns leid« bekam ich mühsam heraus. Der Versuch, meinen Mut zusammen zu nehmen und selbstbewusst zu klingen war kläglich gescheitert. Meine Stimme war nur ein fahles Flüstern, dass in dem dunklen Raum widerzuhallen schien. Die kleinen, irisierend leuchtenden Staubfragmente, die an Asche erinnernd langsam vom Boden aufstiegen und irgendwo weit oben einfach verschwanden, verwirbelten vor meinem Mund, als ich sprach. Genauso, wie sie zwischen den langen stoffähnlichen Ausläufern, die dort begannen wo ich das Kinn dieser Abnormität vermutete, durcheinander wirbelten um dann von der Dunkelheit verschluckt zu werden.
»Es tut uns wirklich leid,« riss ich mich wieder zusammen, das namenlose Grauen erneut adressieren, wobei jedes bisschen Lautstärke dass ich gewann meine Stimme umso stärker zittern ließ, »wir wollen sie zurückbringen und uns entschuldigen.«
Meine Stimme versagte, als ich sah, wie sich der insgesamt gut zwanzig Zentimeter umfassende pechschwarze Klauenfinger langsam nach hinten über bog. Wer schon mal einen Freund hatte, der seine Finger gnadenlos überstrecken konnte, oder dies einmal im Fernsehen gesehen hatte, weiß wovon ich spreche. Doch jene Ausgeburt der Schatten musste nicht andere Finger zu Hilfe nehmen, um das, was vielleicht einmal ein Zeigefinger war, soweit zu überstrecken. So träge wie diese Bewegung wirkte, und so knochig-scharf wie die Gliedmaßen aussahen, erwartete ich fast ein Knacken zu vernehmen. Doch das Einzige was in der Luft lag war mein schwerer Atem und die keuchend-schleppenden halberstickten Laute, die beständig irgendwo aus der Untiefe dieser Existenz heraufzusteigen schienen. Wie Teerblasen, die irgendwo tief im dunklen Morast ihren Anfang nahmen und dann träge an die Oberfläche hinaufstiegen, nur um dort fulminant zu platzen, zum Erstaunen vieler Zuschauer. Aber dieses Wesen erstaunte mich nicht; nein, dieses Wesen entsetzte mich. Es war jedoch nicht diese Form des Entsetzens, die eher einem tiefen, innerlichen Schaudern gleichkommt, wenn man erschütternde Nachrichten erfährt. Auch nicht der kleine Schock, den man erhält, wenn man sich kräftig erschrickt, und der einen teils erleichtert darüber, dass man es heil überstanden hat, teils noch angespannt, weil es eine furchterregende Situation war, hinter sich lässt. Nein, es war nacktes, kaltes und grausiges Entsetzen. Jenes, dass wir nur empfinden können, wenn wir mit einem Grauen konfrontiert sind, das unsere eigene Auffassungsgabe so weit übersteigt, dass unser Verstand es nicht mehr in einen kleinen, angenehmen Happen verwandeln kann, den wir gut verdauen könnten. Es war jenes blanke Entsetzen, das Menschen empfanden, wenn sie mit Umständen oder Zuständen konfrontiert waren, die drohten, den eigenen Verstand aus seinen Angeln zu heben, denn egal wie man es sich versuchte zu drehen und zu wenden: Man kam niemals in die Position, diese Art von Übel wirklich zu begreifen, oder überhaupt zu ergreifen, um es wirklich umfassen zu können. Es war ein pures Gefühl ungeschönter Angst, wie sie unsere Urahnen wohl noch empfanden, in einer Welt in der es weder trügerische noch echte Sicherheit gab. Jene Form tiefgehender aber eng eingeschnürter Panik, die sie wohl empfinden mussten, wenn sie plötzlich von Angesicht zu Angesicht mit einem Räuber konfrontiert waren, der ihnen nur nach dem köstlichen Fleisch trachtete, dass sie auf ihren affenähnlichen Gerippen trugen.
Ich atmete schwer durch. Es kostete mich alle Überwindung, langsam meine Hände zu strecken, die wie Espenlaub dabei zitterten. Die kleine Bronzeglocke fest umklammernd war ich peinlichst darum bemüht, das Wesen selbst nicht zu berühren. Ja nicht an diese knochigen Klauen zu stoßen, die jeden Finger ab der Hälfte ersetzten, ausgenommen des Daumens; hier setzte die lange Klaue am Endglied an, fatal an einen Fingernagel, der zum Morden geeignet war, erinnernd. Vorsichtig schob ich die Öse, die dem filigranen Bronzeguss einst als Aufhängung diente, über die spitze Kralle, die sich, je weiter ich die Glocke vorschob, stärker nach oben stellte. So weit, bis sie stark genug gekrümmt war, dass ich die Glocke ohne Kampf nicht mehr hätte wiederbekommen können.
Den Atem anhaltend ließ ich die Glocke los. Ich wusste selbst nicht wie meine Situation noch schlimmer hätte werden können. Doch in diesem Moment, als ich die Mittelfinger aus dem Bronzeguss zog die den Klöppel fixiert hatten, und das kleine Gusswerk hell zu Läuten begann, erwartete ich das Schlimmste. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft in einen nutzlosen, vor Pein beißenden Klumpen, doch ich schaffte es nicht mal, die Hand an meine Brust zu legen. Starr und mit geweiteten Augen verfolgte ich die Regungen des Wesens, dass sich langsam abzuwenden schien. Ich konnte seine Beine nicht wirklich erkennen, verschwommen sie doch mit der Dunkelheit des endlosen Raums in dem wir gefangen schienen, aber die Bewegungen des stachelbewehrten Korpus hatten etwas Schleppendes an sich, als würde jemand sein Bein nur mitziehen. Beschwert wirkend, obwohl es eher zu gleiten schien, entfernte sich dieser Wächter des Schattens nun, begleitet vom hellen, feinen Bimmeln seines Kleinods, dessen Läuten die irisierenden Staubpartikel in kleine wilde Strudel versetzte.
Es war endlich vorbei.