
Die Totenglocke – Part 3
31/01/2021
Wenn ich heute auf meiner Veranda sitze und über unseren kleinen Garten blicke, da erscheinen mir die Geschehnisse häufig wie ein böser Fiebertraum, der mich in einem geistesschwachen Moment ereilte. Doch manchmal, wenn auch wirklich nicht häufig, sehe ich wie Anja innehält und so wie ich über die kleine Wiese blickt, zu dem schmalen Bach, der an unserem Grundstück gemächlich vorbei plätschert. Es ist so idyllisch, dass es einem zuweilen fast schon unwirklich erscheint, dass so viel Frieden und Ruhe an einem Platz existieren können – besonders wenn man so etwas erlebt hat, wie wir beide erlebten.
Ich kann nicht sagen, dass wir beide völlig unbeschadet aus dieser Sache herausgekommen wären, noch kann ich behaupten, es hätte unser Leben völlig zerstört. In gewisser Weise bildeten die damaligen Ereignisse eher den Anfang von etwas Neuem, dass wir uns so noch nicht einmal erträumt hatten, geschweige denn je darauf eingestellt waren.
Als ich wieder aus dem Loch gekrochen war, in jener Nacht damals, war sie mir direkt in die Arme gestürzt. All die Zweifel, ob nur der Moment dafür verantwortlich war, dass sie meine Nähe suchte, und ich nicht viel mehr war als ein zweitklassiger Tröstspender, der ihr ein wenig Halt in dieser Dunkelheit gab, waren wie fortgewischt. Bis heute ist mir unklar, wie ich auf die Idee kam, sie just zu fragen ob sie mich heiraten wolle. Ohne Ring, ohne Kniefall, beide vor Dreck stehend, in dieser unwirtlichen Umgebung, die alles andere war als ein romantisches Restaurant oder ein Urlaubsausflug vor einen paradiesischen Wasserfall, der eine lauschige Kulisse abgab, für solch eine Frage. Aber ich war überzeugt, sie war “die Richtige”. Mehr noch: Sie war die Einzige.
Anja hatte meine Frage weggelacht, ehe die Ereignisse sie wieder einholten, und sie vom heißeren Lachen in heißeres Schluchzen überging. Ich hielt sie eine Weile tröstend in den Armen, ehe ich beschloss, dass es endgültig Zeit war zu gehen und all das Ungemach hinter uns zu lassen. Der Friedhof hatte uns nur widerwillig wieder in die weite Welt hinausgespuckt, aber wir hatten es auch nicht sonderlich eilig. Nicht, dass wir nicht fortwollten. Nein, im Gegenteil: Wir wollten wieder hinaus und weit weg von diesem Platz, ohne jede Frage. Aber wir beide hatten die vage Hoffnung, Oman wieder zu finden, der noch irgendwo dort herumirren musste. Also riefen wir und versuchten jede Grabreihe noch einmal abzulaufen, die wir durchquert hatten. Die Lichter unserer Taschenlampen tanzten in der Dunkelheit über den Boden, in der Hoffnung, dass einer von uns einen Blick auf einen Fußabdruck oder irgendeine andere Spur von ihm erhaschen würden. Doch wir fanden nichts. Nicht einmal die Stelle, an der wir ihn verloren hatten, fanden wir wieder.
Also suchten wir uns einen Weg hinaus, durch den viktorianischen Begrenzungszaun, als wir nicht einmal mehr eine Idee hatten, wo wir ihn noch suchen sollten, und taten das Einzige, was uns noch einfiel, in dieser verzweifelten Lage: Wir riefen die Polizei.
Ich bin kein Freund davon, die Polizei als Institution zu verübeln. Sicher, es gab ein paar schwarze Schafe, doch wenn wir ehrlich sind, gibt es die in jeder anderen Behörde genauso. Himmel, manchmal weiß ich nicht einmal mehr, ob es heute noch einen Supermarkt gibt, ohne eine jener politisch oder sozial sehr fragwürdig eingestellten Personen, die ohne die Konsequenzen ihres eigenen Gedankenguts und ihrer Forderungen wirklich einmal zu durchdenken nicht den Ruf aller Kollegen mit in den Dreck zu ziehen vermochten. Aber meistens, wenn ich merke, dass solche Gedanken aufkommen, verbanne ich sie in den hintersten Bereich meiner grauen Zellen, die auf der Arbeit schon genug zu tun haben. In gewisser Weise, hatte das, was wir erlebten, mir sogar etwas Ruhe verschafft. Ich hatte das Böse erlebt. Das wahre Böse, und nicht nur die vage Frage, ob unser Gegenüber es mit uns gut meinte oder nicht. Ich hatte gespürt, wie sich wahre Dunkelheit anfühlt. Und auch wenn diese Leute diesen Todeshauch der Destruktivität und Entartung an sich trugen, so wusste ich, dass die Strafe für ihre Fehlurteile zu Lasten Andersartiger, die sie außerhalb der Norm sahen, schon irgendwann folgen würde. Selbst wenn alle weltlichen Institutionen versagten, gab es etwas jenseits von alledem, was wir täglich als unsere Realität erlebten, dass schon für eine gewisse Gerechtigkeit sorgen würde. Nicht, dass ich nun allzu religiös geworden war, nein. Dies war einfach nicht der Fall, auch wenn ich genug Anlass wohl dazu gehabt hätte. Nein, vielmehr hatte ich zu akzeptieren gelernt, dass es einfach mehr gab, zwischen Himmel und Erde, als wir mit bloßem Auge oder Ohr vernehmen konnten.
Vielleicht hätte ich mich sogar einer Religion zugewandt, wenn sie denn Oman damals wohlbehalten gefunden hätten. Denn dies wäre ein Wunder gewesen, dass ich mir, für meinen Teil, wirklich mit ganzen Herzen herbeigesehnt hatte.
Ich vermeide die Gedanken daran auch heute noch meist. Natürlich hatte die Polizei uns nichts geglaubt. Gleichwohl sie keinerlei Drogen oder Alkohol bei den Tests fand, die umgehend im Krankenhaus angewiesen wurden, als sie uns eingeliefert hatten. Es klang alles einfach zu sehr nach einem Produkt eines schlechten Trips. Natürlich suchten sie Oman dennoch, denn seine Eltern bestätigten ja, dass er weder zu Hause noch irgend sonst wie erreichbar war. Aber unsere Erklärung dafür, warum und wie er verschwunden war, schien schlichtweg zu viel, um es glauben zu können, sogleich es doch die reine Wahrheit darstellte.
Die Nachrichten berichteten von ein paar waghalsigen Jugendlichen, die gemeinschaftlich ihre Schule geschwänzt und sich auf einem Friedhof herumgetrieben hätten, was den hießigen Pfarrer so in Rage zu versetzen vermochte, dass er einen Schlaganfall erlitt. Als “Unruhestifter” wären wir wohl schon zuvor aufgefallen, als wir uns zu weit in unterirdischen Kelleranlagen vorgewagt und dort verlaufen hatten. Wir avancierten schnell zu Negativbeispielen des “urban exploring”, als junge Menschen, die weder ihre eigenen Grenzen noch die des guten Geschmacks einzuhalten wussten.
Ein paar weniger seriöse Magazine hatten wohl auch Wind von unserem kleinen Ausflug in die Fabrik bekommen, oder zumindest davon, dass Anja ein Ouija-Brett hatte, und versuchten uns als “verkappte Satanisten” zu brandmarken. Ja, wir wurden am Ende sogar dazu befragt, ob wir Teil eines solchen unheiligen Kults wären. Diese Vorhaltungen konnten wir allerdings glaubhaft abstreiten und entkräften, zu unserem Glück. Nicht auszudenken, wenn die Staatsanwaltschaft auf die verrückte Idee gekommen wäre, wir hätten Oman in einem satanistischen Ritual auf einem Altar ausgeweidet und wüssten sehr wohl, was mit ihm geschehen war. Die Diagnose “Psychose”, wenn man sie denn als Diagnose sehen will, war hierbei mehr als nützlich.
Die offizielle These der Ärzte lautete, dass uns wohl das Verhalten des Pfarrers so verschreckt hätte, dass wir flüchteten und unser Geist, als reine Übersprungshandlung, in eine Art psychotischen Zustand geriet, der uns all die Dinge sehen, hören, schmecken und fühlen ließ, die wir eben meinten, damals gesehen, gehört und gefühlt zu haben. Es wäre ungewöhnlich, so erklärte man damals, dass zwei Personen dieselben Dinge in solch einem Zustand erlebten, aber vermutlich haben wir uns gegenseitig mit diesen Ideen angesteckt und dann ähnliche, wenn auch nicht vollkommen gleiche Wahnvorstellungen entwickelt. Und warum? Wegen des vermeintlichen Schlaganfalls eines Gottesdieners, den wir angeblich nicht in der Lage waren, zu verarbeiten, weil er Folge unseres von “jugendlicher Neugierde” geprägten nicht genehmigten Ausflugs auf einen Friedhof war.
Es ist wohl überflüssig an dieser Stelle zu erwähnen, dass die Wochen und Monate die darauf folgten hart waren. Nicht, weil wir uns vor Hausarrest oder anderen Strafen fürchten mussten. Nein, im Gegenteil. Wir kamen nicht einmal nach Hause, um uns in Ruhe sortieren und vor allen Dingen wiedersehen zu können. Man trennte uns und verbrachte jeden für sich in unterschiedliche Einrichtungen, in denen wir uns “erholen” sollten und unser geistiger Zustand noch einmal gründlich durchgecheckt wurde.
Das Ergebnis war absehbar: Natürlich waren Anja und ich angeschlagen, aber eben nicht verrückt. Wir wussten ja, dass wir uns diese Dinge nicht nur einbildeten, oder Opfer von Psychosen geworden waren. Aber so sehr wir auch argumentierten, so viel wir auch logisch begründeten und versuchten unsere Ärzte zu überzeugen, uns gelang es selbstverständlich nicht. Ich brauchte länger als Anja, um dies zu begreifen. Es müssen wohl um die drei bis vier Monate gewesen sein, die sie in der Nervenklinik zu brachte, bis sie begriffen hatte, was sie sagen musste, um einsichtig und progressorientiert genug zu wirken, und dann wieder heim zu dürfen. Ich für meinen Teil blieb bei der puren Wahrheit, so wie ich sie erlebt hatte, und wehrte mich lange dagegen, es als psychotische Erfahrung und Einbildung zu akzeptieren. Gleichwohl es selbst dann, als ich meine Geschichte änderte und “zugänglich wurde”, nur Lippenbekenntnisse waren, damit ich endlich raus und nach Hause käme.
Auch wenn es wenig rühmlich ist, so muss ich zugeben, dass ich an mancher Stelle sogar ihren Ausführungen und Thesen glauben wollte. Sie klangen so viel wohliger und weniger beängstigend, als das, was ich noch in lebhafter Erinnerung hatte. Aber es war nun einmal nicht die Wahrheit und es dauerte lange, bis ich es zumindest schaffte, so zu tun, als hätten mich die Ärzte überzeugt. Doch all das, was wir durchmachten – all die Höhen, all die Tiefen – war nichts, in Anbetracht des Schmerzes, den es Omans Eltern bereitete, dass ihr Sohn nicht lebendig zurückkehrte. Die Polizei fand ihn lange nicht, trotz des Einsatzes von spezialisierten Suchtrupps und Spürhunden. Erst ein Großaufgebot an Menschen, die das gesamte Kirchenareal und umliegende Gelände absuchten, bestehend aus Feuerwehr, Polizei und einer Heerschar an Freiwilligen, fand ihn. Tage, nachdem wir bereits ins Krankenhaus gebracht worden waren.
Die offizielle Todesursache lautete Herzstillstand, auch wenn er in einem kleinen Bachlauf entdeckt wurde. Wieso und warum blieb im Unklaren, doch folgte man der Hypothese der Ärzte, so war er vielleicht in seinem psychotischen Zustand, unfähig sich Hilfe zu holen, in den Bach gekrabbelt, dessen eiskaltes Wasser letztlich zur Todesursache führte. Dies war auch die Erklärung für seine vor Angst verzerrten Züge, denen man noch Tage später ansehen konnte, dass er nicht friedlich gegangen war. Ich hatte Leichenaufnahmen gesehen, dank meiner Ärzte, die jede Chance ausschließen wollten, dass ich mir unwissentlich einredete, er könne noch leben und dort unten gefunden werden und damit, in letzter Konsequenz, die Einbildungen wieder nähren würde.
Anja hatte mich nur einmal gefragt, was ich davon gesehen habe und wie mein Eindruck war. Nicht, dass sie nicht genau wie ich immer wieder an Oman denken musste und sich wünschte, es wäre irgendwie anders gekommen und wir hätten noch irgendetwas tun können. Aber um es in ihren Worten zu sagen: Sie behielt lieber den lebhaften jungen Mann mit seinem schrägen Humor in Erinnerung, als diesen Schrecken, den ich ihr beschrieb.
Natürlich hatten wir beide erst mit etwas Verzögerung davon erfahren, dass man Oman weitergesucht und letztlich tatsächlich gefunden hatte. Zumindest seinen Körper, oder was von diesem nach ein paar Tagen im Wasser eben noch übrig war. Seine Beisetzung hatten wir ebenso verpasst, wie die Gedenkfeierlichkeiten unserer Schule. Was das anbelangte, musste ich meinen Ärzten beipflichten, dass es wohl das Beste für uns war, alles zu “verpassen”. Denn selbst wenn wir wesentlich früher hätten heimkehren dürfen und dies alles möglich gewesen wäre, blieb immer noch die Frage bestehen, wie es aufgenommen wurde, von allen anderen. Immerhin waren wir diejenigen, die mit Oman losgezogen waren. Oder wie die Zeitungen titulierten: “Seine besten Freunde”. Wie hätten seine Eltern reagiert? Wie unsere Mitschüler und andere Freunde von ihm? Was hätten wir ihnen sagen sollen, wenn die Frage aufgekommen wäre, was denn nun genau passiert sei und wie darauf geantwortet, wie es sein kann, dass wir ihn aus den Augen verloren hatten und dann zurückließen?
Es mag vielleicht im ersten Moment feige anmuten, wenn ich sage, dass sowohl Anja als auch ich denken, dass es so für alle das Beste war. Wir hätten einfach nichts Gutes beisteuern können. Aber allen, die nun wähnen, wir hätten je aufgehört seiner zu gedenken, und das Opfer, dass er nicht nur um seinen Fehler glatt zu bügeln, sondern auch um uns zu helfen brachte vergessen, dem kann ich nur sagen, dass dies niemals der Fall war. Bis heute ist das Datum, an dem wir von Omans Ableben erfuhren gewählt haben, jedes Jahr der Tag, an dem wir seine Grabstätte besuchen.
Und ich kann versichern, dass wir nie bereuten, unseren Erstgeborenen nach dem Mann benannt zu haben, der uns zwar mit seinem jugendlichen Leichtsinn in diese Situation gebracht, aber mit dem Mut einer guten Seele wieder herausgeholfen hatte.
