
DFiN – Der verdammte Nebel
20/01/2021
DFiN – Audrey und das Chaos
20/01/2021Ihr Instinkt hatte sie nicht betrogen. Das Ziehen in ihrem Unterleib wurde stärker und sorgte dafür, dass ihre Lippen nur noch eine Grimasse schmaler zusammengekniffener Striche bildeten. Ihr fiel eine verschwitzte Haarsträhne ins Gesicht, die sie mit filigranen Fingern wieder hinter ihr Ohr klemmte, dabei einen dumpfen Laut von sich gebend. Für einen Moment verharrte ihr Blick auf ihren schwieligen Händen. Die Zeit, in der ihre Haut noch fast makellos rein und weich war, schien schon ewig vorüber. In dem Büro, in dem sie für eine Modezeitschrift gearbeitet hatte, gab es wenig Gelegenheiten, sich Schwielen zu holen. Allerhöchstens einer der Fingernägel konnte einmal abbrechen, für die sie teilweise Stunden bei der Maniküre und ihrer favorisierten Fingernail-Artistin zubrachte. Luci hatte die Fingernägel nie so lange tragen können, wie sie wollte. Sie wären bei ihren Tipp-Arbeiten hinderlich gewesen. Aber nun? Nun waren sie so kurz, dass sie nicht einmal mehr hilfreich waren. Nicht, dass es noch viele Tesafilm-Rollen gab, oder Plastiktüten, oder andere Dinge, bei denen man sie hätte gewinnbringend einsetzen können. Es wurde ja nichts mehr produziert dieser Art produziert, schon seit gefühlten Ewigkeiten.
In diesem Leben, damals, hätte sie sich genauso wenig vorstellen können, Mutter zu werden, wie heute. Und das obwohl die moderne Gesellschaft so viele Annehmlichkeiten, Sicherheiten und Vergünstigungen bereitstellte. Wegwerfwindeln. Flaschen. Schnuller. Muttermilchersatz und Babynahrung, die Unabhängigkeit von den Kapazitäten der natürlichen Brustfütterung schafften. Ganz abgesehen von den Fortschritten im Bereich der Geburt und der Versorgung im Wochenbett. Zwanzig tote Frauen bei der Entbindung und kurz danach auf einhunderttausend Geburten gesehen war tragisch für die Familien, aber kein Vergleich zur Müttersterblichkeit früherer Zeiten. Und dennoch: Die Vorstellung ein Kind zur Welt zu bringen, diese Schmerzen durchzustehen und sich diesem Risiko freiwillig auszusetzen hatte Luci genügt, sich dagegen zu entscheiden. Weniger, weil sie keine Kinder leiden konnte. Eher, weil sie sich einfach noch nicht bereit dafür gefühlt hatte, trotz all der modernen Annehmlichkeiten und Unterstützung.
Und da war natürlich noch die Frage nach dem passenden Vater. Nicht, dass Luci dem Feminismus nichts abgewinnen konnte und alternative Lebensmodelle zu dem veralteten “Vater-Mutter-Kind”-Schema ablehnte. Aber für sie, rein persönlich, war immer klar, dass zu einem Kind auch ein Vater gehört. Eben wie sie es in all den Filmen und Büchern gesehen hatte, von klein auf: Man fand den Mann den man liebte, man heiratete und dann bekam man ein Kind, den Traum des eigenen Happy Ends und Lebensglück komplettierend.
Gefunden hatte sie “den” Mann sogar mehr als einmal, geliebt ebenso, aber mit der Heirat wurde es eben nie etwas. Die hochbeschworene Liebe, die ein Leben lang halten sollte, in tiefster Vertraut- und Verbundenheit entpuppte sich ein jedes Mal als endlich. Wie ein Boot, dass zwar bunt und reichlich geschmückt in ein glasklares unter der Sonne glitzerndes Meer stach, aber unweigerlich nach einer Weile in raue See geriet um letztlich erbarmungslos an einem der scharfen Felsen zu zerschellen, die das Leben jedem möglichen Happy End zwangsläufig irgendwann in den Weg schob. Sie hatte aufgegeben, darüber nachzudenken, ob es an ihr lag, oder ihnen. Mit der Zeit hatte sich Luci sogar sehr damit angefreundet, dass ihre Partner und sie nur mehr gute Weggefährten waren, die einander eine Weile ihre Bedürfnisse nach Sex, Nähe und Kurzweil vertrieben, nur um dann wieder ins Beiboot zu steigen und davon zu driften, bis sie aus ihrem Blick gerieten und sich der nächste Besucher ankündigte. Es war weniger kompliziert, als dem eigenen Lebensglück nachzurennen, als wäre jedem sein persönliches kleines Wunder beschert und ihre Karriere dankte ihr diese Entscheidung.
Aber jetzt?
Jetzt saß sie hier, mit den Schwielen an den Fingern und hatte alle Mühe, ihre Beine mit auf Isaacs Bett zu ziehen um sich umständlich darauf nieder zu lassen, während es sich anfühlte, als triebe jemand ein Messer in ihren Unterleib und drehte es aus purer Schadenfreude immer wieder herum.
Und entgegen jedes Vorsatzes, daran festzuhalten, dass das Leben einer Mutter für sie unvorstellbar war und man gar kein Kind in die Welt, wie sie heute war, setzen durfte, bewegte die Angst um das Leben des kleinen Wesens, dass sie unter dem Herzen trug mehr, als jene um ihr eigenes Wohlbefinden.